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Herbst 3/2024

Verrat

WAS UNS BEWEGT

Skandalisieren, Aussagen aus dem Kontext nehmen, mit Unterstellungen argumentieren, Widersprüchliches unterschlagen, auf Kosten von Sorgfalt und Besonnenheit eilige Dringlichkeit behaupten, inhaltliche Auseinandersetzungen an Personen oder Generationen festmachen, eine Front aufmachen und diese dann verteidigen müssen… – Diskursstrategien wie diese schaden nicht nur der innerfeministischen Debattenkultur. Sie bereiten auch den Boden für sogenannte Shitstorms. Ein Begriff der eigentlich viel zu harmlos ist: Wir reden von offenem Hass und Rassismus, von kommunikativer Lynchjustiz und Vergewaltigungsdrohungen. Diesmal traf es die ehemalige Wir Frauen-Redakteurin Mithu M. Sanyal. In diesem Punkt funktionieren Hasskampagnen und sexualisierte Gewalt ähnlich: Als Möglichkeit und somit permanente Drohung treffen sie uns alle. [Weiterlesen]

 

Die neue Ausgabe ist da: VERRAT

Verrat, Enttäuschung, Hass, Rache: So lauten die Schwerpunktthemen dieser und der kommenden Ausgaben. Damit erkunden wir ethisch anrüchige, suspekte und oft verdrängte Themen und Gefühle. Vielleicht ist darin gar für uns Brauchbares zu finden?
Wir fragen im Sinne Frigga Haugs nach der Zweigeschlechtlichkeit der Moral. Wie „die vergesellschafteten Menschen die gleichen Moralsätze je Geschlecht unterschiedlich hören, ihnen je andere Bedeutung beimessen“ hat sie in ihrem Aufsatz „Das Ethische aus dem Himmel der Werte in die Praxen aller Menschen holen“ erforscht und beschrieben.  Sind unsere Assoziationen zu Verrat womöglich unterschiedlich, je nachdem, welches Geschlecht wir dabei vor Augen haben? Woran liegt es, dass das verächtliche „Petze“ fast ausschließlich in der weiblichen Form gebraucht wird? Es scheint uns, meist geht es um Macht und Politik, um militärische Verträge und Geheimnisse, wenn Männer verraten. Frauen dagegen „verraten“, wenn sie die Fotos schönen, die sie auf Facebook posten. Über diese Spielart „weiblichen Verrats“ schreibt Anna Schiff in dieser Ausgabe.
Wir suchten nach Verräterinnen in Mythen und Märchen – einige illustrieren die kommenden Seiten. Sogleich kamen uns Ellen Parsons  und Patty Hewes, Protagonistinnen der TV-Serie „Damages – Im Netz der Macht“ in den Sinn, gespielt von Glenn Close und Rose Byrne. Mindestens zwei von uns haben die Serie um zwei Anwältinnen, die raffiniert mit- und gegeneinander mörderische Intrigen spinnen, fasziniert-lustvoll verfolgt.  Auf der Website www.blickamabend.ch werden in der Liste der „10 größten Verräter der Geschichte“ nur zwei Frauen genannt: Zum einen Jane Fonda, weil sie amerikanische Veteranen, die berichteten, in nordvietnamesischer Kriegsgefangenschaft misshandelt worden zu sein, als «Heuchler und Lügner» bezeichnete. Angebliche gibt es seitdem einen Brauch an der United States Naval Academy: Wenn ein Matrose «Gute Nacht, Jane Fonda!» ruft, müssen alle anderen Rekruten mit «Gute Nacht, Bitch!» antworten. Zudem wird Malinche genannt, die im Rahmen der Konquista für Hernán Cortés übersetzte und so dazu beitrug, Allianzen gegen die Azteken zu schmieden und Moctezuma II zu unterwerfen. Seit dem Aufkommen des mexikanischen Nationalismus im 19. Jahrhundert steht „ malinchismo“ für den Verrat am eigenen Volk. Sie gilt als „Geliebte“ von Cortés. Da ihre Sicht der Dinge aber nicht überliefert ist, bleibt unklar, ob Cortés ihr Gewalt antat. Für manche verkörpert sie daher eher Demütigung, Niederlage und Unterwerfung. In manchen Regionen Mexikos wird Malinche dagegen als „Mutter der Mestizen“ verehrt. Die Bewertung ist also immer auch eine Frage der Perspektive. Manche gequälte Frau weiß sich anders nicht zu helfen, als sich ihres Peinigers „hinterrücks“ zu entledigen, greift zum Gift oder wartet lange auf den richtigen Moment zur Flucht – Strategien der Ohnmacht, geprägt von Geschlechterrollen und begrenzten Möglichkeiten, sich Auge in Auge zur Wehr zu setzen.
Das gefährliche am Verrat ist, dass er nie von deinen Feinden kommt, heißt es. Mutige Whistleblower_innen kündigen oft erst nach langen inneren Konflikten die von ihnen erwartete Loyalität mit ihren Arbeitgeber_innen auf, um Missstände aufzudecken. Inge Hannemann z.B. arbeitete beim Jobcenter Hamburg-Altona und skandalisierte den behördlichen Umgang mit Bezieher_innen von Hartz IV. Whistleblower_innen riskieren i ihren Job, manchmal auch ihre Freiheit oder gar ihr Leben. Chelsea Manning steht gleich zweimal für Verrat:  Manning spielte WikiLeaks vertrauliche Dokumente zu, darunter Videos von der Tötung irakischer ZivilistInnen sowie Dokumente über Folter durch US-amerikanische Besatzungstruppen im Irak und im Gefangenenlager Guantanamo. Ihrerseits verraten wurde Manning womöglich von Adrian Lamo, einem Sicherheitsspezialisten der US-Regierung, dem sie sich anvertraut haben soll. Orane Courtalin rekonstruiert die Ereignisse und berichtet von den Briefen, die Manning aus der Haft schrieb.
Frauen in der Résistance setzten ihr Leben aufs Spiel, um Verfolgten zu helfen, und übernahmen Kurierdienste. Sofern sie nicht „heroisch“ zur Waffe gegriffen hatten, begriffen sich etliche von ihnen nicht einmal selbst als antifaschistische Kämpferinnen. Wider das Vergessen beschreibt Florence Hervé auf welch vielfältige Weise Frauen Widerstand leisteten.
Auch an Ideen kann Verrat geübt werden. Die Geschichte nicht nur der Frauenbewegung ist voller Beispiele, wie das Erkämpfte sich gegen uns wendet, Forderungen vermeintlich aufgegriffen und zugleich benutzt und verkehrt werden. Isolde Aigner beschreibt in ihrem Beitrag „Der Verrat unserer Körper“, wie Staat und Medien Frauen und deren Recht auf sexuelle körperliche Selbstbestimmung entweder instrumentalisieren oder ihnen mit vollkommener Gleichgültigkeit, gar Verachtung begegnen.
Mit Sprache greifen wir ins Denken ein,  bestimmen, was sagbar, denkbar und wahrnehmbar ist. Melanie Stitz hat „Wörter des Verrats“ gesammelt – Begriffe, die Missstände beschönigen, uns die Kraft rauben und nicht selten  aus emanzipatorischen Kontexten entwendet wurden.

von Melanie Stitz


Inhalt dieser Ausgabe

Schwerpunkt

Für die einen ist es „Verrat“, für die anderen „Whisteblowing“
– Chelsea Manning.
von Orane Courtalin

Frauen in der Resistance: „Wir fühlten uns frei“.
von Florence Hervé

Der Verrat unserer Körper.
von Isolde Aigner

Wörter des Verrats.
von Melanie Stitz

Verrat und Anspruchsdenken.
von Anna Schiff

Meine feministische Wahrheit


2017 wird feministisch!
von Rena Föhr

Jenseits des Male- und Mainstreams:
Lesung aus 35 Jahren Wir Frauen!

Andere Länder

Das Thema Wasser im öffentlichen Diskurs verankern. Zaki Shubber, Expertin für Wasserrecht und -diplomatie.
von Florence Hervé

Krieg und Frieden


Clara Zetkins Kriegsbriefe (1914-1918) Ein Gespräch mit der Herausgeberin Marga Voigt
von Florence Hervé

Who cares?! Kämpfe umd Reproduktion und Gewerkschaftsarbeit


Angriff ist die beste Verteidigung.
von Anna Schiff

Projekte


Wir lesen weiter! Feministischer Lesekreis zu
Anarchafeminismus

Queer-feministisches Frauen*seminar in Salecina: eine Idee, die noch was taugt!

Herstory

„Die Vernunft befiehlt uns, frei zu sein!“ 200 Jahre Mathilde Franziska Anneke (1817-1884).
von Karin Hockamp

Als unwichtig aussortiert.
von Anne Allex

Frauenbewegung – Gleichstellungstelle – Genderforschung –
Lehre. Ein Nachruf auf Gesine Spieß (10.1.1945 – 4.12.2016)

Gesehen


„Cyankali“ und der Kampf gegen den §218
Von Christine Hauck
30 Jahre Internationales Frauenfilmfestival in Dortmund

Daten und Taten


Aslı Erdoğan / Leonora Carrington