Seit 40 Jahren Wir Frauen
Ein Blick zurück nach vorne
von Florence Hervé & Melanie Stitz
(aus WIR FRAUEN Heft 3/2022: Zusammen frei sein)
„Die Wir Frauen ist eine kleine, aber langlebige unabhängige, radikaldemokratische Frauenzeitschrift“, schrieb die Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin Prof. Elisabeth Klaus 2013. Da war die Zeitschrift 30 Jahre alt. Während einige Frauenzeitschriften in den widrigen 90er Jahren ihr Erscheinen eingestellt hatten, machte Wir Frauen weiter. Unser 40. Geburtstag ist Anlass zu fragen: Was war die Zielsetzung damals? Warum der provokative Titel Wir Frauen? Was hat sich seitdem geändert? Ist Wir Frauen noch zeitgemäß?
Als 1982 die erste Ausgabe erschien, war die internationale Frauenbewegung im Aufschwung, die bundesrepublikanische Revolte gegen Frauendiskriminierung und repressive Gesellschaft weiterhin zugange. Das UNO-Jahr der Frau 1975, unter dem Motto „Gleichberechtigung – Entwicklung – Frieden“, war Ausdruck eines neuen Bewusstseins und zugleich Impuls für Aktionen.
Frauen aus autonomen Gruppen, der Friedensbewegung und den Gewerkschaften traten zur Initiative ‚Internationales Jahr der Frau 75‘ zusammen und riefen u.a. zur Vorbereitung des Kongresses der Frauenorganisationen und -bewegungen in Berlin (Ost) auf. Den Appell unterstützten u.a. Schriftstellerinnen wie Ingeborg Drewitz und Luise Rinser, Betriebsrätinnen und Politikerinnen wie die Widerstandskämpferin und Gewerkschafterin Alma Kettig (SPD-Bundestagsabgeordnete bis 1965), Journalistinnen wie Ingeborg Küster, Elly Steinmann (beide führend in der Westdeutschen Frauenfriedensbewegung) und die Publizistin Lottemi Doormann. Nicht mehr Worte, sondern Taten, forderten sie von den Regierenden.
Aus der Initiative wurde die Demokratische Fraueninitiative DFI mit 100 Regionalgruppen. Ihre Losung: „Gleichberechtigung in einer humanen Gesellschaft“. Da tauchten die ersten Plakate mit der Überschrift Wir Frauen auf. Gab die italienische feministische Zeitschrift Noi donne dazu die Anregung? Die Frauensolidarität, international und vor Ort, spielte eine Rolle bei der Wahl des Namens. Wir Frauen war Ausdruck eines gewachsenen Selbstbewusstseins, eines Zusammengehörigkeitsgefühls, eines Bekenntnisses für eine linke Frauenbewegung, die Gleichberechtigung nicht als „Frauenfrage“ begreift, sondern sie in den Kontext einer humanen Gesellschaft stellt.
Das überwältigende Echo des ersten wir frauen-Kalenders 1979 (Auflage 28.000) gab den letzten Anstoß: Der seit 1978 herausgegebene DFI-Rundbrief wurde 1982 zur Zeitschrift. „Von hektographierten Mitteilungen zum gedruckten Informationsblatt, auch hier sind wir auf dem Vormarsch“, schrieben die Redakteurinnen in der ersten Ausgabe im März 1982.
Wir Frauen verstand sich als Gegenöffentlichkeit, als Informations- und Kommunikationsplattform einer linken Frauenbewegung. Es gab schon damals Schwerpunktthemen, wiederkehrende Rubriken zu Historischem, Kultur oder internationaler Solidarität sowie Berichte aus der Arbeit der Gruppen.
Die erste Ausgabe war dem Frieden gewidmet, vor dem Hintergrund der Stationierung von Atomraketen in der BRD und der geplanten Einführung eines Frauenwehrdiensts. Dorothee Sölle plädierte für Frieden und Emanzipation: „Befreiung müssen wir heute – zwar nicht ausschließlich, aber unerläßlich – als Freiheit von der Fähigkeit zum Overkill begreifen.” Lottemi Doormann schlussfolgerte aus ihrer Analyse der neuen Frauenfriedensbewegung: „Frieden und Emanzipation sind Schwestern.“ Die Gewerkschafterin Gisela Kessler widerlegte die Behauptung, mehr Rüstung schaffe Arbeitsplätze.
1990 brachen die Strukturen der DFI zusammen. Frauen der Bundesgeschäftsstelle konzentrierten sich auf die Gründung vom „Wir Frauen – Verein zur Förderung von Frauenpublizistik e.V.“, der die Zeitschrift unter erschwerten Bedingungen herausgab.
„Euch gibt es noch immer?“ ist eine Frage, die wir oft zu hören bekommen. Denn selbstverständlich ist das nicht. Jede Ausgabe ist eine Herausforderung, wir freuen uns am gedruckten und mit Herz und Verstand gestalteten Papier und den Rückmeldungen unsere Leser:innen. Dennoch: Unser ehrenamtliches Projekt bleibt prekär, weil viel zu viel Arbeit auf wenigen Schultern ruht. Denn weitaus mehr ist zu tun, als einen Artikel zu schreiben… Wir ringen um jedes Abo und erinnern in unserer mehrdeutigen Anzeige daran: „Feminismus ist käuflich! – für 16 € im Jahr!“
Immer wieder stoßen neue Redakteurinnen dazu, viele bleiben für Jahre und als Beirätinnen mit dem Projekt weiter verbunden, wenn sie zum Schreiben die Zeit nicht mehr finden. Über die Jahre hat sich um Wir Frauen ein beeindruckendes Netzwerk entwickelt. Wir staunen über die Praktikumsbewerbungen mancher Anfang-20-Jährigen, die dann erfährt, dass sowas bei uns nicht funktioniert, dennoch mitmachen will und mitunter ihren ersten Artikel in der Wir Frauen veröffentlicht.
Manche stutzen ob unseres Titels. Dieses „Wir“ ist doch hochproblematisch, und dann noch „Frauen“ dazu! Unser Titel hat eine Geschichte, an die wir wertschätzend anknüpfen wollen – zu oft beginnen wir (nicht nur) in feministischen Bewegungen und Theorien immer wieder von vorn und unterstellen mit neuen Begriffen, auch der Inhalt sei gänzlich neu.
Vieles unterscheidet uns in der Redaktion voneinander: Herkunft und Muttersprache, Lebens- und Liebesweisen, welche Art Sorgeverantwortung wir tragen, z.B. für Kinder oder Eltern, Bildungswege, Alter und Einkommen…
Die Soziologin Eliane Kurz interviewte uns vor ein paar Jahren für ihre sehr anregende Doktorinnenarbeit zu „Intersektionalität in feministischer Praxis“ und gab uns darin den Namen „Kollektiv der Vielfalt – Gruppe Ambivalenz“.
Wir haben den Wunsch und die Hoffnung, unsere Unterschiede fruchtbar zu machen. Etliche von uns sind zudem noch in weiteren Kontexten engagiert, z.B. gegen Faschismus oder Profite mit unserer Gesundheit.
„Wir werden nicht als Frauen geboren, wir werden es“, schrieb Simone de Beauvoir. Was uns verbindet, sind die vielschichtigen Erfahrungen, als Frauen gelesen und vergesellschaftet zu werden – und täglich wirken wir daran mit. Von diesen Erfahrungen ausgehend üben wir Kritik „von unten“ an den Verhältnissen, wollen Frauen und feministischen Bewegungen jenseits des Main- und Malestreams Gehör verschaffen und an mitunter verdrängte, beinah vergessene Geschichte erinnern. Mit jeder Ausgabe folgen wir unserer eigenen Neugier, dem Wunsch zu verstehen und ins Handeln zu kommen – auch das geht gemeinsam besser als für sich allein.
Wir teilen die Utopie, dass wir alle eines Tages einfach nur Menschen sind, gleich an Rechten und Möglichkeiten, uns frei zu entwickeln. Geschlecht wäre dann eine bedeutungslose Kategorie. Wir teilen dieses Begehren mit den Bewegungen, die das brutal durchgesetzte Konzept der Zweigeschlechtlichkeit in Frage stellen. Es ist genug Patriarchat für alle da und braucht Widerstand und Mut zur Utopie an allen Ecken und Enden. Allein machen wir vielleicht Karriere (selbst das wäre kritisch zu prüfen…), die Verhältnisse aber ändern wir nur gemeinsam.
So setzen wir auf ein „Wir“ als Projekt. Das ist nicht einfach gegeben, sondern Ergebnis nie endender Arbeit. Es braucht dazu Auseinandersetzung, Wertschätzung, Zuhören, Selbstveränderung, Respekt und Neugier für unsere unterschiedlichen Erfahrungen, Geschichten, Begehren, Schreib- oder Sprechweisen. Vielleicht gelingt auch erstmal ein behutsames Bündnis, bevor – vielleicht – ein „Wir“ daraus wird.
Literatur
- Elisabeth Klaus/Ulla Wischermann (Hg.): Journalistinnen. Eine Geschichte in Biographien und Texten. 1848-1990, Lit Verlag, Wien/Münster 2013.
- Melanie Stitz/Gabriele Bischoff/Florence Hervé: Seit bald 25 Jahren erscheint die Zeitschrift wir frauen, in: Wer schreibt, der bleibt. Die Neue Frauenbewegung. Beiträge zur feministischen theorie und praxis 66/67, Köln 2005.
- Eliane Kurz: Intersektionalität in feministischer Praxis. Differenzkonzepte und ihre Umsetzung in feministischen Gruppen. Transcript Verlag, Bielefeld 2022.