Kritik
Ausgabe 2/2022
Kritisches Denken und Hinterfragen sind ein Lebenselixier für eine lebendige Gesellschaft, die nicht im Statischen und Unveränderlichen verharrt. Gesellschaftskritik steht außerhalb vorherrschender, mehrheitsfähiger Positionen, gibt sich nicht mit dem Status Quo zufrieden und legt den Finger in die Wunde. Dabei wird das vermeintlich Selbstverständliche in Frage gestellt. Denn das, was als „normal“ gilt, ist eine Machtfrage und steht in Verbindung mit (teils gesetzlich legitimierten) Ausschlüssen und Diskriminierungen, wie zum Beispiel die Pathologisierung von Trans*Personen.
Kritisches Hinterfragen kann außerdem dazu beitragen, unsere Horizonte zu erweitern, in dem wir uns mit anderen Perspektiven auseinandersetzen und diese anerkennen. Kritik ist das Gegenteil zu Apathie und Gleichgültigkeit.
Wer Kritik äußert – und mag er sich in jenem Moment noch so ohnmächtig fühlen – der hat immer auch ein Bewusstsein für Ungerechtigkeit und eine Idee von einer besseren Gesellschaft. Auf diese Weise kann ein kritisches Bewusstsein immer auch Ausgangspunkt für Utopien, Träume, Visionen sein und auf Veränderung drängen. Eine Gesellschaft ohne Kritik ist hingegen tot, vergleichbar mit einem versteinerten Gehäuse. (…)
Welchen Herausforderungen stellt sich Kritik heute?
In unserer immer komplexer werdenden Welt, die sich durch widersprüchliche Entwicklungen auszeichnet, wird Kritik zumeist nicht einfach unterdrückt, sondern vereinnahmt. So wird ihr die Schlagkraft genommen, sie wird als unzeitgemäß verworfen oder tabuisiert.
Einerseits gewinnen zunehmend Personen und auch Meinungen an Einfluss, die für eine vielfältigere Gesellschaft stehen und den Status Quo der Mehrheitsgesellschaft in Frage stellen. Andererseits formiert sich eine konservative, oft rechte Front gegen diese Stimmen: Feministinnen, Journalistinnen, queere oder muslimische Aktivist*innen erfahren Shitstorms und Hatespeech bis hin zu Morddrohungen. Mitunter werden Meinungen entgegen des Malestreams zu angeblich machtvollen Positionen hochgejazzt: „Man darf ja gar nichts mehr sagen!“, heißt es dann. Die Journalistin Margarete Stokowski erkennt darin Abwehrkampfe in den „letzten Tagen des Patriachats“, das bis aufs Blut verteidigt wird.
Auch vermeintliche Modernisierungen im Geschlechterverhältnis können feministischer Kritik die Schlagkraft nehmen. Antonio Gramsci prägte den Begriff der „passiven Revolution“: Die herrschende Klasse räumt Zugeständnisse ein, zumindest für einige, mit dem Ziel, ein paar wenige in den Machtblock zu integrieren, „die unteren“ zu spalten, den Konflikt zu befrieden und Herrschaft weiter zu sichern. So belegen einzelne Ausnahmekarrieren z.B., dass Frauen heute alles schaffen können – sie müssen sich nur richtig reinhängen. Wer braucht da also noch Feminismus? Nach der Soziologin Angela McRobbie wird dadurch eine feministische Kritik, die weitreichende und grundlegende Veränderungen einfordert, als unzeitgemäß verworfen. (…)
Kritik ist lebensnotwendig, aber sie braucht Luft zu atmen!
– Auszug aus der Einleitung von Isolde Aigner
Inhalt dieser Ausgabe
Schwerpunkt KRITIK
Einleitung:
Kritik braucht Luft zum Atmen
von Isolde Aigner
Für uns oder für alle? Identitätspolitik zwischen Kritik und Selbstbehauptung
von Annegret Kunde
Zwischen Aufschrei und Ausschluss – Shitstorms und Cancel Culture
von Annegret Kunde
SLAPP: Grundrechte auf der Anklagebank
von Tina Berntsen
Brave Spaces – Mutige Diskussionsräume für feministische Schlagkraft
von Isolde Aigner
Der endlose Zirkel
von Nerocy Chanthirakanthan
Meine feministische Wahrheit
Eine Ahnung vom guten Leben – Eva von Redecker im Interview
von Tina Füchslbauer
Krieg & Frieden
Feministischer Frieden?
von Melanie Stitz
feministisch, partizipativ, transparent
Ein Gespräch mit Mitgliedern des feministischen Mandats JUNTAS
von Claudia Fix
WHO CARES?! Kämpfe um Reproduktion und Gewerkschaftsarbeit
„Frauen fühlen sich wie Objekte“
Personalmangel im Kreißsaal und beschleunigte Geburten
Ein Interview mit Katharina Desery (Mother Hood e.V.)
Herstory
„Eine der Wagemutigen und Wegbereiterinnen“
Anmerkungen zu Clara Zetkins’ Rezeption am Rande ihres 165. Geburtstags
von Florence Hervé
Kultur
Loïe Fuller Superstar. Tänzerin aus Licht und Farbe
von Thea Struchtemeier
Ausstellungen
Projekte
„Was ich anhatte…“
von Beatrix Wilmes und Hannah Fais
Gesehen
Abteil Nr. 6
von Gudrun Lukasz-Aden / Christel Strobel
Gehört
Podcast-Rezension: Das Patriarchat hat Gästeliste
von Tina Berntsen
Daten und Taten
Shirin Ebadi
Mascha Kaléko
… und sonst
Hexenfunk
Gelesen
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