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Winter 4/2024

Zur Entstehungsgeschichte des Familiengesetzbuches der DDR

In Erinnerung an Herta Kuhrig (1930-2020) – Feministin und Frauenforscherin in der DDR

von Sabine Berghahn / Christl Wickert

(aus WIR FRAUEN Heft 1/2021, Schwerpunkt: Europa)

Wir kannten Herta Kuhrig aus den 1980er Jahren, als sie in Berlin (West) über ihre Frauenforschung in der DDR referierte. Sie sprach im Duktus von älteren Frauenforscherinnen oder politischen Kämpferinnen für Frauenrechte und beschwor weibliche Solidarität, auch riskierte sie manches offene Wort „über die Männer“ nicht nur in der DDR. Herta Kuhrig wurde uns als authentische Feministin ein Begriff. Später lernte Christl Wickert sie in feministischen Diskussionszusammenhängen persönlich kennen, wo auch die unterschiedlichen Entwicklungen der Frauenrechte in beiden deutschen Staaten thematisiert wurden.

Überraschend ist heute die Lektüre eines 1967 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erschienenen Aufsatzes über „Die öffentliche Meinung in der DDR zur Entwicklung der Familie und des Familienrechts und ihr Einfluß auf den Inhalt des neuen Familiengesetzbuches“, den Herta Kuhrig zusammen mit Anita Grandke und Wolfgang Weise zur Entstehung des Familiengesetzbuches der DDR (in Kraft zum 1. April 1966) auch im Westen veröffentlichte. Gemeinsam hatten sie einen Entwurf erarbeitet, der nach einer umfangreichen gesellschaftlichen Beratung ausgewertet und abgeändert wurde. Die öffentliche Diskussion dauerte vier Monate.

Es wurden 33.973 Veranstaltungen durchgeführt, an denen 752.671 „Bürger“ – natürlich auch Bürgerinnen – teilnahmen. Es kam zu 23.737 registrierten Stellungnahmen, davon hatten Frauen einen Anteil von 49 Prozent. Demnach haben der Staat DDR und die herrschende Partei hier eine größere Offenheit gegenüber Strömungen, Forderungen und Problemdarstellungen der Bevölkerung gezeigt als bei anderen Regelungsmaterien. Wie Herta Kuhrig sich gegenüber Christl Wickert 2017 erinnerte, stellte sich die Entwicklungsgeschichte des Familiengesetzbuches aus ihrer Perspektive allerdings differenzierter dar.

1964 gab die damalige Justizministerin der DDR, Hilde Benjamin, einem Mitarbeiterstab – darunter nur eine einzige Frau – den Auftrag, ein Familiengesetzbuch zu entwerfen. Benjamin, eine Juristin der Pionierinnengeneration, hatte in den 1920er Jahren in Berlin Jura studiert, war nach den Examina 1929 zur Rechtsanwaltschaft zugelassen worden und hatte bis zum Berufsverbot 1933 als Anwältin in Berlin Wedding gearbeitet. 1949 war mit der Verabschiedung der DDR-Verfassung das seit dem Jahr 1900 geltende Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) – anders als nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik – außer Kraft gesetzt worden, u.a. weil gerade das BGB-Familienrecht die „nicht gleichberechtigte Position von Frauen in Ehe und Gesellschaft (…) verfestigte“. Für den Übergang orientierten sich die DDR-Gerichte in Familienrechtsfragen zwar am BGB, aber nach den Grundsätzen der neuen Verfassung.

Nach relativ kurzer Zeit lag der Ministerin ein Entwurf vor. Benjamin erkannte in weiten Passagen der Vorlage den Text des Vierten Buches des BGB (Familienrecht) in der Fassung von 1896. Daraufhin übergab sie den Auftrag an die gerade vom DDR-Ministerrat gegründete Forschungsgruppe „Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft“ an der „Akademie der Wissenschaften“.

Die Familiensoziologin Herta Kuhrig, Leiterin der Forschungsgruppe von 1968 bis 1977 und ab 1981 Vorsitzende des gleichnamigen Wissenschaftlichen Rates, die Juristin Anita Grandke und der Jurist Wolfgang Weise lieferten einen Entwurf, der nach ihren Vorstellungen den Grundsätzen der Gleichberechtigung entsprach: Nicht nur das Recht der Frau auf ökonomische Unabhängigkeit und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sondern – auf Vorschlag von Kuhrig – auch das Recht der Eheleute auf den je eigenen Namen sollten festgeschrieben werden. Hilde Benjamin soll begeistert gewesen sein, wurde jedoch im Ministerrat gestoppt. Der Kompromiss war dann die öffentliche Beratung.

Herta Kuhrigs Rückblick fiel nach der Wende eindeutig aus: Der Entwurf wurde „entschärft“, weil z.B. das vorgeschlagene Namensrecht wie auch die Pflicht der Männer zur Mitarbeit im Haushalt und bei der Kindererziehung in der Bevölkerung nicht akzeptiert wurden.

Im Vergleich zur frauen- und familienrechtlichen Entwicklung in der BRD wurde in der DDR schon 1955 das Zerrüttungsscheidungsrecht eingeführt. Die gleichen Rechte und Pflichten für die Eheleute wurden im Familiengesetzbuch aber nur durch einen allgemein formulierten Appell an die Mitarbeitspflicht der Männer in Haushalt und Familie erwähnt. Gegen die egalitäre Wahlmöglichkeit eines gemeinsamen Ehenamens hatte die Bevölkerung zwar nichts einzuwenden, soweit war die Gleichberechtigung also vorgedrungen, wohl aber regte sich Widerstand gegen die Wahloption, die jeweils vorehelichen Familiennamen beizubehalten. Zu diesem Vorschlag gab es 1.274 Stellungnahmen, davon äußerten sich 1.241 gegen eine solche Regelung und nur 33 dafür.

Die Vehemenz der Ablehnung der allzu individualistischen Option, unterschiedliche Namen nach der Heirat behalten zu dürfen, bestätigte Bedenken der DDR-Staatsführung und führte dazu, dass die staatlich eingesetzte Kommission diese Wahlmöglichkeit aus dem zu verabschiedenden Gesetz strich. Die Möglichkeit eines Doppelnamens wurde immerhin noch als Sondermöglichkeit im Gesetz über das Personenstandswesen verankert, aber selten in Anspruch genommen.

Die Auseinandersetzung in der DDR ist bemerkenswert, weil in der BRD an eine gleichberechtigte Namenswahl für Eheschließende in den 1960er Jahren nicht zu denken war. Die konservative Hegemonie herrschte gerade in der Ehe- und Familienrechtspolitik lange vor. Der Ehename war laut BGB der des Mannes. Nicht einmal in der Zeit der sozial-liberalen Koalition (1969-1982) wurde im Rahmen der Eherechtsreform, die zum 1. Juli 1977 in Kraft trat, die Pflicht zum gemeinsamen Ehenamen aufgehoben.

Gesetzlich geschaffen wurde lediglich die Wahlmöglichkeit zwischen dem Nachnamen des Mannes und der Frau (mit der Option eines Doppelnamens für die Person, deren Nachname nicht als gemeinsamer Ehename festgelegt wurde). Jedoch sollte der Mannesname automatisch zum Ehenamen werden, wenn sich die Eheschließenden nicht auf einen gemeinsamen Namen einigen konnten.

Es bedurfte zweier Anläufe mit Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe, um eine gesetzliche Reform im Sinne einer Wahlmöglichkeit zwischen einem gemeinsamen Ehenamen und dem Weiterführen der unterschiedlichen Namen zu erzwingen (1991). Das Gesetz trat zum 1. April 1994 in Kraft, als es die DDR längst nicht mehr gab. Da hätte die DDR schon 28 Jahre lang ein egalitäres Vorbild im Ehenamensrecht sein können, wenn die innovative Wahlmöglichkeit 1965/66 nicht aus dem Entwurf des Familiengesetzbuches gestrichen worden wäre.

Kuhrig war enttäuscht, dass die DDR nicht einmal eine Wahloption zuließ. Ein gewisser Konservatismus und Konformismus herrschte allgemein, sogar in der mit Richterinnen und Richtern neu besetzten Justiz, so Kuhrig 2017. In dem Artikel von 1967 nannten Grandke, Kuhrig und Weise die Wirkungsmächtigkeit des ehelichen Gemeinschaftsgedankens gegenüber der individuellen Gleichberechtigung von Frau und Mann als Grund für die Streichung der Option. Die Eheschließung drückte damals eine Beschwörung genau dieser Zweiergemeinschaft aus, dies gilt für viele Heiratende auch heute. Noch 2017 kritisierte Herta Kuhrig, dass eine solche Illusion weiterhin verbreitet sei.


Hertha Kuhrig
(* 5. September 1930; † 2. November 2020)

1945 Umsiedlung aus Thierbach nahe Karlsbad (Karlovy Vary) nach Grabow (Meckl.)
1946 Beitritt zur SED
1949 Abitur, Studium der Gesellschaftswissenschaften in Leipzig
1952 Assistentin an der Berliner Hochschule für Ökonomie
1957-61 Aspirantur zu den „Problemen der Entwicklung sozialistischer Familienbeziehungen“ am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED
1964 Forschungsgruppe „Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft“: Verantwortliche für die INFORMATIONEN, die sog. „grünen Hefte“
1968-77 Leiterin der Forschungsgruppe
1973 Berufung zur Professorin
1981-89 Vorsitzende des Wissenschaftsrats bei der Akademie der Wissenschaften, Mitglied der Frauenkommission beim Politbüro des ZK der SED.
1990 Ruhestand
1989/90 Mitbegründerin des Unabhängigen Frauenverbandes, Mitglied der Ausgründung der „Linken Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft der Frauen“ (LISA)
1991-2010 Vorsitzende der Seniorenvertretung Treptow-Köpenick
2013 Verleihung der Bürgermedaille von Treptow-Köpenick