Wut – zwischen Befreiung und Zerstörung
von Isolde Aigner
(aus WIR FRAUEN Heft 1/2023)
Wut ist aktuell allgegenwärtig. „Sie zeigt sich bei der Wut islamistischer Terroristen, bei den Trumps oder Pegidas“ – so die Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach. Nach der Journalistin und Autorin des Buches „Wut und Böse“ Ciani-Sophia Hoeder kann Wut aber auch politischen und sozialen emanzipatorischen Wandel bewirken. Aber warum fällt es nach wie vor so schwer, Wut auch als etwas Produktives anzuerkennen?
Wer darf wütend sein und wann?
Während männliche Wut allgegenwärtig und ‚normal‘ zu sein scheint, erfährt weibliche Wut bis heute gesellschaftliche Ächtung. „Es geht darum, dass es ein gesellschaftliches Bild von Frauen mit der Botschaft gibt, dass sie sanft und fürsorglich sein sollen“, so Ciani-Sophia Hoeder. Die Wut von Frauen wird als irrational und hysterisch markiert und abgetan. Sie haben sanftmütig und liebevoll zu sein.
Die Philosophin Kate Manne hat sich in ihrem Buch „Down Girl“ damit auseinandergesetzt, wie sehr Frauen dazu verdammt sind, gegenüber Männern und der Gesellschaft „Gebende“ und „Dienende“ zu sein. Wenn Frauen sich dieser Aufgabe aber verweigern, gelten sie als kalt, herzlos, achtlos und verantwortungslos.
Ausgerechnet von Menschen mit unterschiedlichen Diskriminierungserfahrungen werde erwartet, besonders nett zu sein: „Sie sollen dankbar sein, ein Teil unserer Gemeinschaft zu sein, und nicht auch noch Anforderungen stellen. Zuschreibungen, wie die ‚Angry Black Woman‘, ‚die wütende Lesbe‘ oder ‚die wütende dicke Frau‘, gibt es aus dem Bedürfnis der Kontrolle und einer tiefen kulturell-sozialen Angst. Einer Angst vor Rache. Einer Angst vor echter Gleichbehandlung. Einer Angst vor Veränderung“, schreibt Hoeder.
Weibliche Wut erscheint aber dann legitim und auch irgendwie reizvoll, wenn sie aus Notwehr entsteht, als hasserfüllte Reaktion auf Unterdrückung, die auf Zerstörung des Unterdrückers abzielt ohne aber einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen.
Rache ist süß und ein einfaches Rezept. Es gibt sogar ein ganzes Filmgenre dazu: Rape-and-Revenge-Filme (zu Deutsch: Vergewaltigungs- und Rache-Filme). Im Film Promising Young Woman z.B. will Cassie ihre Freundin rächen, die sich nach einer Vergewaltigung das Leben nahm. Cassie sucht regelmäßig Bars auf, tut so, als wäre sie stockbesoffen und lasst sich von angeblich hilfsbereiten Männern abschleppen. In dem Moment, wo sich die Männer über ihren vermeintlich bewusstlosen Körper hermachen wollen, schlägt sie zu. Ihre letzte Tat, die sie mit dem Leben bezahlt, gilt dem Vergewaltiger ihrer Freundin, der schließlich in den Knast wandert.
Franziska Schutzbach verweist auf Audre Lordes Unterscheidung von Wut und Hass. So sagt Lorde: „Wenn ich im Zorn zu euch spreche, habe ich wenigstens mit euch gesprochen. Ich habe euch keine Pistole an die Schläfe gesetzt und euch nicht auf offener Straße niedergeschossen.“
Hass (auch sprachlicher) zielt für Schutzbach nur auf die Auslöschung der anderen Person. Ist Wut also „nur als Motor zur Zerstörung denkbar?“, fragt Schutzbach. Wie kann eine weibliche Wut aussehen, die uns nicht lähmt und davor bewahrt, irgendwann vor Hass zu zerplatzen? Wie können wir eine lebensbejahende, befreiende Wut entfachen?
Wut als Motor für Emanzipation und Befreiung
Schutzbach schreibt weiter: „Wut ist negativ und visionär zugleich. Sie ist hoffnungslosvoll. Denn sie kann nicht nur das sehen, was schiefläuft, z.B. den Ausschluss von Frauen oder People of Color, sondern auch das, was anders sein konnte.“
Sie kann z.B. Schlagkraft entfachen, wenn ihr Ausdruck herrschende Verhältnisse anprangert und sie auf diese Weise (weltweit) sichtbar werden lasst. „Wo bleibt der Frauenstreik?“, lautet der Titel eines Artikels von Alexandra Zykonov 2020 in der Brigitte. Ihrer Wut über die Ausbeutung von Frauen im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie lässt sie darin freien Lauf: „Die Politik scheißt auf Mutter. Die Politik scheißt auf Frauen. Vor 2000 Jahren, wie heute.“
Wütend war auch die Rede von Greta Thunberg auf dem Klimagipfel in New York 2019, die schließlich um die Welt ging: „Wie konntet Ihr es wagen, meine Träume und meine Kindheit zu stehlen mit Euren leeren Worten? Wir stehen am Anfang eines Massenaussterbens und alles, worüber Ihr reden könnt, ist Geld und die Märchen von einem für immer anhaltenden wirtschaftlichen Wachstum – wie könnt Ihr es wagen?“
Die 18-jahrige Schülerin Emma Gonzalez, die ein Massaker an ihrer Schule in Florida überlebte, protestierte gegen das Einknicken des Staates gegenüber der Waffenlobby in den USA. Unter Tränen hielt sie eine wütende Rede: „Politiker, die in ihren vergoldeten Häusern und Stühlen sitzen, die von der Waffenlobby NRA bezahlt werden, sagen uns: Nichts hatte so etwas verhindern können. Wir sagen: Bullshit!“
Wut und Widerspenstigkeit können Kraft geben und Mut machen, um sich aus Unterdrückung zu befreien. Die Schriftstellerin und selbsternannte „Proletin der Weiblichkeit“ Virginie Despentes erklärt, dass es gerade die als männlich assoziierten Eigenschaften waren – das Aggressive, das Laute und das Grobe –, die ihr das Leben gerettet haben.
Auch normierte weibliche Schönheitsideale können wütend machen. Die Schauspielerin Stefanie Reinsperger plädiert dafür, Wut zu nutzen als Energie, um sich selbst zu ermächtigen. Sie weigert sich, Demütigungen aufgrund ihres Übergewichts noch langer unkommentiert zu ertragen.
Wut kann kollektiven Widerstand gegen Gewalt entfachen, wie bei der Rache-am-Patriarchat-Demo 2020 – als Reaktion auf bildbasierte sexualisierte Übergriffe auf einem Festival: Ein Mann hatte heimlich Filmaufnahmen auf Dixie-Toiletten gemacht und Videos von Personen mit Vulva gegen ihren Willen auf Pornoplattformen veröffentlicht und verkauft.
Wut kann ihren Ausdruck in Kunst finden: Niki de Saint Phalle schoss auf ihr Kunstwerk La mort du Patriarche – ein unförmiger Körper, aus dessen Einschusslochern rote Farbe floss. Die Künstlerin verarbeitete damit den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater und machte ihre Wut so künstlerisch produktiv.
Wut kann auch die Leidenschaft zur Solidarisierung entfachen.
Ciani-Sophia Hoeder tritt ein für ein Konzept, das Fürsorge und Wut miteinander verbindet, die sogenannte „Wut-Empathie“: „Empathisch zu handeln bedeutet, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Wut-Empathie geht dabei einen Schritt weiter. Es ist das sich mitärgern. Hierbei geht es nicht nur, um das ‚oh, wie schade‘, sondern das ‚wie kann ich mit anpacken?‘. Deshalb sollten wir füreinander mitdenken, mitfühlen und vor allem mitwüten“ im Sinne einer gemeinschaftlichen und kollegialen Wut.
Auf diese Weise kann Wut zerstörerische und treibende Kraft zugleich sein, die uns dazu ermutigt, die eigene Ohnmacht zu überwinden, um so eine andere Welt zu schaffen.
In diesem Heft
In dieser Ausgabe stellt Christiana Puschak Sachbücher, Erfahrungsberichte und Romane vor, die sich dem Thema Wut widmen. Samira Igwe setzt sich – auch anhand eigener Erfahrungen – mit dem rassistischen Narrativ der wütenden Schwarzen Frau auseinander, das Betroffenen das Recht auf Wut abspricht.
Am Beispiel von Myanmar, Iran, Afghanistan und den globalen Klimaprotesten zeigt Annegret Kunde, wie sich die wachsende Wut von Frauen in weltweiten Protesten entlädt.
Im Interview mit Theresa Horchbach sprechen Anita Habel und Birgit Zech von den Psychologists for Future über „das Feindbild Klimaaktivist*in“ und erklären, wie eigene ungute Gefühle angesichts multipler Krisen auf vermeintlich Schuldige projiziert werden. Das feministische Manifest von Thu Hoài Tran widmet sich dem Aufruf der Schwarzen Aktivistin und Feministin Audre Lorde und ihrer Forderung nach einem Orchester der Wut – als kollektiver Widerstand gegen ein rassistisch-patriarchales System.
Den Schwerpunkt illustrieren Zeichnungen von Anna Geselle aus ihrem Comic „Furiositäten“. Wir freuen uns über die Erlaubnis zum Abdruck und stellen die Künstlerin vor.
Literatur:
Franziska Schutzbach: Reclaim Anger. Eine Hommage an weibliche* Wut.
Ciani-Sophia Hoeder: Wir brauchen mehr Wut-Empathie.
Bildnachweis Cover:
„pussy riots la dehesa“, Bild: Rodrigo Quezada/flickr, CC BY-SA 2.0. Änderungen: Ausschnitt, Graustufen