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Sommer 2/2024

„Wir vergessen nicht!“

Interview mit Elisa Franco Sentis, Sprecherin der feministischen Koordination 8. März in Chile

(aus WIR FRAUEN Heft 3/2023)

Welchen Ansatz verfolgt die feministische Koordination 8. März, um dem Gedenken an den 50. Jahrestag des zivil-militärischen Putsches zu begegnen?

Seit den Anfängen unserer Organisation haben wir anerkannt, dass es wichtig ist, eine feministische Erinnerung zu bewahren – eine Erinnerung, die vergangene Kämpfe gegen Gewalt und für ein würdiges Leben für Frauen, Dissident*innen und die Unterdrückten mit den aktuellen Kämpfen verbindet und sichtbar macht. Daher haben wir unsere Kämpfe von Anfang an aus einer politischen und historischen Perspektive betrachtet. Darüber hinaus wollen wir die durch politische sexualisierte Gewalt erlebte doppelte Verletzung von Frauen und geschlechtlichen Dissident*innen sichtbar machen.

Ein weiterer Aspekt, der uns wichtig erscheint, ist der Kampf gegen das Aufkommen des Neofaschismus, der extremen Rechten und eines Diskurses, der einen Autoritarismus wiederherstellt. Momentan äußerst sich dieser in einer Erzählung, die den Staatsstreich leugnet und relativiert, sowie in dem Versuch, alle Fortschritts- und Transformationsprozesse, die während der Unidad Popular stattgefunden haben, aus dem kollektiven Gedächtnis zu streichen.

Welche Aktionen plant ihr konkret?

Ausgehend von den Diskussionen auf dem Plurinationalen Treffen der kämpfenden Frauen und Dissident*innen11 haben wir als landesweite Koordination beschlossen, dass der 50. Jahrestag eine tragende Säule für unsere Arbeit in diesem Jahr sein soll. Der diesjährige feministische Generalstreik stand im Zeichen des Gedenkens und des Widerstands unter dem Motto: Wir Feministinnen vergessen und verzeihen keinen einzigen Putsch!

Deshalb haben wir beschlossen, feministische Erinnerung und Widerstände durch Workshops und Treffen sichtbar zu machen. Wir werden auch eine Broschüre verfassen und eine Veranstaltung zu feministischer und dissidenter Erinnerung organisieren, um unsere Genoss*innen zu ehren, die an den Transformationsprozessen während der Unidad Popular teilgenommen und sich dem Staatsterrorismus und der politischen und sexualisierten Gewalt widersetzt haben. Damit fordern wir Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Menschenrechtsverletzungen gestern und heute. Wir vergessen unsere ermordeten Genoss*innen und die Überlebenden der Revolte von 2019 nicht.

Eine unserer Strategien bestand darin, sich mit verschiedenen Gedenk- und Menschenrechtsorganisationen zu vernetzen und gemeinsam Aktionen durchzuführen. Historisch sind Feminismus und geschlechtliche Dissidenz im Gedenken nicht sichtbar gewesen, obwohl viele der Organisationen und Kämpfe von Frauen geführt werden. Wir stehen daher vor der Herausforderung, feministische Erinnerungsarbeit zu fördern und politische und sexualisierte Gewalt in diesen Räumen sichtbar zu machen.

Internationaler Frauentag, Santiago de Chile, 2023. Foto: Mimcollipal / Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Warum ist es für die feministische Bewegung wichtig, sich an diesem Gedenken zu beteiligen?

Zunächst einmal stellen die feministische Bewegung und die Kämpfe der Frauen und um Diversität eine starke und seit vielen Jahren organisierte Kraft dar. Viele Wissens- und Widerstandsformen, die wir in den verschiedenen Perioden und Momenten der Revolten, sowohl gestern als auch heute, entwickelt haben, treten in unseren gegenwärtigen Aktionen hervor.

Mit größerer Gewissheit als je zuvor können wir heute feststellen, dass die autoritäre Wende mit einem Rückschritt in Fragen der Frauenrechte und der Geschlechtervielfalt einhergeht. Deshalb ist es wichtig, dass sich die feministische Bewegung an diesem Gedenken beteiligt, da sie eine Perspektive bietet, die es ermöglicht, die Gewalt und Unterdrückung zu verstehen und ihre Interpretation auszudifferenzieren.

Wir weisen seit langem darauf hin, dass unsere Stimme nicht delegiert werden kann. Das ruft uns dazu auf, verschiedene Räume des Kampfes zu besetzen, um den Interpretationen der Vergangenheit und den Aktionen der Gegenwart gegen das Bestehende unsere eigene Stimme hinzuzufügen. Schließlich hat die feministische Bewegung Stärke und Radikalität hervorgebracht. Die Kämpfe gegen geschlechtsspezifische Gewalt und Ungleichheiten fordern die Art und Weise, wie das Leben organisiert ist, im Ganzen heraus. Wie die argentinische Feministin Verónica Gago sagt: Sie implizieren „den Wunsch, alles zu verändern“.

Der Feminismus, den wir in der Coordinadora aufgebaut haben, ist nicht auf die Geschlechterperspektive als solche beschränkt. Wir haben Ausschüsse, die sich zum Beispiel mit gewerkschaftlichen, erzieherischen oder sozio-ökologischen Kämpfen befassen. 50 Jahre nach dem Putsch bleiben wir dabei, dass der Kampf um die Erinnerung feministisch und dissident sein muss oder nicht sein wird.

Welche Bedeutung hat für euch das Gedenken an den 50. Jahrestag des Putsches?

Diese Gedenkfeier findet in einem sehr komplexen Kontext statt. Einerseits ist sie durchdrungen von der Erinnerung an die soziale Revolte von 2019, die uns eine wertvolle Erfahrung des kollektiven Kampfes für ein menschenwürdiges Leben vermittelt hat. Andererseits sehen wir uns mit einer besorgniserregenden autoritären und konservativen Wende konfrontiert. Durch einen Vormarsch der extremen Rechten und der Passivität progressiver Regierungen erstarken Hass, Repression und der Ruf nach Strafe. Vor diesem Hintergrund diskutieren wir als Coordinadora, was bei diesem Gedenken auf dem Spiel steht und warum und zu welchem Zweck wir uns erinnern.

Meiner Meinung nach sollte dieses Gedenken unter anderem darauf abzielen, ein utopisches Gedächtnis aufrechtzuerhalten, d. h. ein Gedächtnis, das die unvollendeten Projekte der Vergangenheit rettet, um sie in der Gegenwart zu aktualisieren. Es ist an uns, die Utopie der uns vorangegangenen Projekte und die sich darin zeigenden kollektive Erfahrung, die heute so sehr fehlen, zu suchen. Der Neoliberalismus ist eine unbewegliche historische Epoche. Die Hinwendung zur Vergangenheit, die Suche nach den Erfahrungen kollektiver Projekte, die uns vorausgegangen sind, ermöglicht es uns, aus dieser Unbeweglichkeit herauszukommen und wieder die Initiative zu ergreifen.

Wir müssen ein Gedenken aufbauen, das sich einem dekorativen Erinnern im Sinne der politischen und wirtschaftlichen Elite unseres Landes widersetzt. Diese negieren mit Blut und Feuer die unvollendeten Projekte [der Unidad Popular], um ihre Privilegien nicht zu verlieren. Wir müssen also darauf bestehen, dass Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbunden sind, vom während der Diktatur eingeführten neoliberalen Modell bis hin zur anhaltenden Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen gestern und heute.

Welche Bedeutung hat die Nichtannahme der neuen Verfassung für euch?

Der verfassungsgebende Prozess war ein beispielloser Vorgang in diesem Land. Aufgrund der Stärke der Revolte nahmen viele Teile der armen Bevölkerung und der sozialen Bewegungen, die seit jeher von der institutionalisierten Politik ausgeschlossen waren, am Verfassungskonvent teil und diskutierten dort. Außerdem wurde dank der feministischen Bewegung zum ersten Mal in Chile und in der Welt ein paritätischer Wahl- und Beteiligungsmechanismus bei der Ausarbeitung eines Verfassungstextes eingeführt.

Für uns lässt sich die Niederlage vom 4. September durch mehrere Gründe erklären. Die abschließende Bewertung befindet sich noch in der Diskussion. Wir bestehen jedoch darauf, dass es sich um eine Wahlniederlage und nicht um die Niederlage eines Projekts handelt.

Wir glauben, dass einige der Faktoren, die gegen uns gearbeitet haben, darin bestehen, dass ein großer Teil der sozialen Bewegungen durch das Tempo und die institutionelle Arbeit im Konvent absorbiert wurden. Das hat zu einer Distanzierung von den Territorien (Orte und Zusammenhänge), aus denen die Personen kamen, geführt. Diese Distanzierung verstärkte sich mit der Pandemie – und der Unmöglichkeit, auf die Straße zu gehen – und der damit einhergehenden Wirtschaftskrise, die zu einer größeren Unsicherheit in der Arbeiterklasse führte. Hinzu kommen die von der Rechten verbreiteten Lügen, sowie das Versäumnis der Regierung, den Konvent zu verteidigen und die politische Bildung voranzutreiben.

Wir haben den Eindruck, dass die Frage der Ablehnung uns noch lange begleiten wird und dass die Erklärungen für die Ursachen immer wieder neu gesucht und die Auseinandersetzung vertieft werden müssen. Heute müssen wir mehr denn je zuhören.


  1. Beim Plurinationalen Treffen diskutieren kämpfende Frauen und Dissident*innen aus dem ganzen Land in Vorbereitung auf den Streik am 8. März. Der Begriff plurinational bezieht sich hier unter anderem auf die indigenen Gemeinschaften, die in Chile für ihre Rechte, Schutz und Anerkennung kämpfen. ↩︎

Übersetzt und bearbeitet von Anna-Maria Imholz und Pilar Puertas.

VERANSTALTUNGEN

Repression und Widerstand. Genoss:innen aus Chile berichten über ihre politischen Kämpfe. Vier Jahre nach den Aufständen, fünfzig Jahre nach dem Putsch.

Organisiert v. a. von der Roten Hilfe gehen fünf chilenische Aktivist:innen im September und Oktober 2023 in Deutschland auf Rundreise, um 50 Jahre nach dem Putsch gegen die sozialistische Regierung über die progressiven Kämpfe der 1970er, heutige soziale Kämpfe und Repression in Chile zu berichten und mit Aktivst:innen hierzulande in Austausch zu kommen. Mit dabei ist auch Elisa Franco.
Die Delegation wird in elf Städten gastieren: Frankfurt/M. (26.9.), Mainz (27.9.), Stuttgart (29.9.), Nürnberg (30.9.), München (2.10.), Leipzig (4.10.), Dresden (5.10.), Berlin (7.10.), Hamburg (9.10.), Oberhausen (10.10.) und Düsseldorf (11.10.).
Die genauen Zeiten und Orte sind hier zu finden.