Weggesperrt statt unterstützt – Frauen in US-Gefängnissen
von Annegret Kunde
(aus WIR FRAUEN Heft 2/2020, Schwerpunkt: Gewalt)
Gemessen an der Bevölkerungszahl haben die USA die höchste Inhaftierungsrate weltweit. Zum Höchststand im Jahre 2008 waren insgesamt 2,4 Millionen Amerikaner*innen inhaftiert sowie weitere fünf Millionen auf Bewährung. Dies ergaben Untersuchungen des Criminal Justice Research Center der Ohio State University. Dabei treffen die Härten der US-Strafjustiz vermehrt Frauen. Die meisten von ihnen sind Mütter, deren Kinder somit auch betroffen sind.
In Bezug auf die Gesamtzahl der Insassen sind Frauen zwar in der Minderheit, doch stieg die Anzahl der Frauen in Gefängnissen in den letzten vier Jahrzehnten um 800%. Damit stieg die Rate doppelt so hoch an wie die der inhaftierten Männer. Nach einer Studie von Prison Policy Initiative und ACLU Smart Justice waren 2019 über 230.000 Frauen in den USA inhaftiert und über eine Million auf Bewährung. Strenge Bewährungsauflagen, überzogene Justizgebühren und Kautionen tragen zur hohen Inhaftierungsrate vor allem armer Menschen bei. Wer sich keinen Rechtsbeistand leisten kann, wird systematisch benachteiligt. Statt gesellschaftlich eh schon marginalisierte Menschen zu unterstützen, werden sie weggesperrt.
Dabei sind die meisten Frauen in den Gefängnissen noch nicht verurteilt. Weil sie sich die Kaution nicht leisten können, müssen sie in Haft auf ihren Prozess warten. 80% von ihnen sind Mütter, die meisten alleinerziehend. Aus Angst um ihre Kinder und um das Sorgerecht stehen sie besonders unter Druck. Sobald Kinder in das amerikanische Pflegesystem eintreten, kann der Staat das Sorgerecht in weniger als zwei Jahren aufheben. Daher bekennen sich viele Mütter vor dem Gerichtsverfahren schuldig, da dies oftmals der schnellere Weg aus dem Gefängnis zu sein scheint. Aber als Kriminelle stigmatisiert, haben sie anschließend Probleme, einen Mietvertrag abzuschließen oder einen Job zu finden. Dies erschwert vielen, ihre Bewährungsauflagen einzuhalten, gerade wenn sie für die Betreuung ihrer Kinder alleine verantwortlich sind. Somit besteht ein hohes Risiko für die Frauen, erneut im Gefängnis zu landen. Für Kinder kann die Inhaftierung eines Elternteils dramatische Auswirkungen haben. Untersuchungen des U.S. Department of Health and Human Services verdeutlichen, dass für die betroffenen Kinder das Risiko psychischer und physischer Erkrankungen steigt, aber auch für Drogenmissbrauch, Schulabbruch und dafür, selbst straffällig zu werden.
Besonders betroffen von der hohen Inhaftierungsrate sind afroamerikanische Menschen und andere Minderheiten. Dies kritisiert auch Bürgerrechtlerin Michelle Alexander und verurteilt die Masseninhaftierung als System der rassistischen Gesellschaftskontrolle, die vor allem Minderheiten trifft und dazu dient, „einen ganzen Bevölkerungsteil, der für überflüssig erklärt wird, wegzusperren, weil er in der neuen globalisierten Wirtschaft nicht benötigt wird.“ In ihrem Buch „The New Jim Crow“ (erschienen auf Deutsch im Verlag Antje Kunstmann 2016) beleuchtet sie die Verbindungen zwischen Sklaverei, Rassentrennung (Jim Crow Gesetze), Armut, mangelnden Bildungschancen, Kriminalität und zunehmender Inhaftierungsrate. „Wie Jim Crow marginalisiert die Masseninhaftierung große Teile der afroamerikanischen Gemeinde, segregiert sie physisch in Gefängnissen und Ghettos und durch Diskriminierung beim Wählen, im Arbeitsleben, bei der Wohnungssuche, in der Bildung und bei Sozialleistungen“, so Alexander. Zur Überwindung dieses Systems ruft sie zu einer neuen sozialen Bewegung auf.
Die große Mehrheit der Frauen ist aufgrund von Drogen- oder Eigentumsdelikten inhaftiert. Drogensucht – oft als Folge von Medikamentenabhängigkeit –, aber auch Traumata durch Gewalt tragen zu der hohen Inhaftierungsrate von Frauen bei. Eine Studie der Northwestern University von 2005 ergab, dass 98% der Frauen in Gefängnissen im Laufe ihres Lebens Traumatisierungen erfahren haben; 74% haben Drogen- oder Alkoholprobleme. Oft bedingt das eine das andere: Drogen können als Flucht vor einem Trauma dienen, und Sucht kann Frauen anfälliger für weiteren Missbrauch machen.
Ein besonderer Risikofaktor für Frauen stellt außerdem häusliche Gewalt dar. So kommt es in solchen Fällen teilweise zu „doppelten“ Verhaftungen oder auch zur Verurteilung von Mädchen, die von zu Hause weggelaufen sind. Zum Teil werden Frauen angeklagt, weil sie sich der Gewalt nicht entzogen haben oder ihre Kinder nicht schützen konnten. Doch den gewalttätigen Partner zu verlassen, stellt ebenso eine Gefahr dar. Etwa 75% der Morde im Zuge von häuslicher Gewalt in den USA geschehen, wenn eine Frau eine Beziehung beendet oder zu beenden versucht.
Statt Kriminalisierung und Inhaftierung würden therapeutische Behandlung und Unterstützung durch Sozialarbeiter*innen und Familienbetreuungen im Kampf gegen Armut, Gewalt und Drogenmissbrauch zur Rehabilitation beitragen. Doch solche Angebote gibt es viel zu wenig und sie sind oft unterfinanziert. Dabei würden Präventivmaßnahmen nur einen Bruchteil der Kosten verursachen wie die Strafjustiz. Das US-Strafjustizsystem verschlingt jährlich über 200 Milliarden Dollar. Kosten, von denen andere profitieren. Eine wachsende Zahl amerikanischer Gefängnisse wird von gewinnorientierten Unternehmen geführt. Diese werden vom Staat bezahlt, und ihr Gewinn hängt davon ab, so viele Häftlinge wie möglich so billig wie möglich unterzubringen. So geben Unternehmen wie Corrections Corporation of America Millionen für die Lobbyarbeit aus, um die Inhaftierungsrate hoch zu halten. Auch Wirtschaftsunternehmen schlagen Profit aus der wertschöpfenden Arbeit der Häftlinge. Oftmals verdienen diese nur Cents pro Stunde und in Staaten wie Alabama und Texas werden sie gar nicht bezahlt.
Diesen „gefängnisindustriellen Komplex der USA” kritisiert Bürgerrechtlerin Angela Davis seit Jahrzehnten. In ihrem Buch „Eine Gesellschaft ohne Gefängnisse?” (auf Deutsch 2004 im PLOT Verlag erschienen) fordert sie die Abschaffung der Gefängnisse und ihre Ersetzung durch positive Systeme wie Ausbildung und Gesundheitsversorgung. Dabei kritisiert sie auch besonders die Gewalt gegen Frauen im Strafvollzug: „Der sexuelle Missbrauch von Frauen im Gefängnis ist heute eine der abscheulichsten staatlich sanktionierten Menschenrechtsverletzungen in den Vereinigten Staaten. Die weiblichen Gefangenen stellen eine der am meisten entrechteten und unsichtbaren erwachsenen Bevölkerungsgruppen in unserer Gesellschaft dar.“ Als vermeintliche Terroristin vom FBI verfolgt, hatte Davis selbst Anfang der 70er über ein Jahr im Gefängnis gesessen, was zu internationalen Protesten führte. Sie wurde schließlich freigesprochen.
Viele lokale und landesweite Initiativen setzen sich für die Rechte von Frauen in Gefängnissen und Strafjustizreformen ein. So kämpft zum Beispiel die Organisation „Still She Rises” in Oklahoma gegen die besonders hohe Inhaftierungsrate von Frauen in diesem Bundesstaat. Sie bietet den Frauen eine umfassende Unterstützung über die rechtliche Vertretung hinaus. Eine Reform des Strafjustizsystems sollte berücksichtigen, auf welchem Wege Frauen straffällig werden. Den oftmals durch Gewalterfahrungen traumatisierten Frauen sollten mit Behandlung und Unterstützung begegnet werden, um eine Kriminalisierung präventiv zu unterbinden. Armut und Marginalisierung sollte mit besseren Sozialleistungen bekämpft werden, statt größere Gefängnisse zu bauen.