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Frühjahr 1/2024

My Body, My Data, My Choice

von Tina Berntsen

(aus WIR FRAUEN Heft 4/2021)

Von der Robotik über algorithmische Entscheidungsfindung bis hin zu „smarter“ (Selbst-) Überwachung – Künstliche Intelligenz (KI) wird als Möglichkeit zur Bewältigung globaler gesundheitlicher Herausforderungen gesehen. KI soll das Gesundheitswesen revolutionieren, soll Forschung, Prävention, Diagnostik und Therapien verbessern: Maschinelles Lernen kann helfen, neue Medikamente zu entwickeln oder bei der Bildauswertung Krankheiten zu erkennen. Medizinisches Personal soll durch Robotik entlastet werden. In Pflegeheimen könnten „Care Bots“, Sensoren und Webcams die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bewohner*innen im Auge behalten. Ältere Menschen könnten länger eigenständig zu Hause bleiben.

Ein lukratives Geschäftsfeld für große Technologiekonzerne, die bereits mit öffentlichen Gesundheits- und Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten oder selbst Forschung und Gesundheitsdienste betreiben. Prof. Tamar Sharon, Radboud Universität Nijmegen, spricht von einer „Googleisierung der Gesundheit“. Entwicklung und Implementierung von Big Data und KI schreiten dabei schneller voran als die Beantwortung der rechtlichen und gesellschaftlichen Fragen, die sie aufwerfen, so Sharon.

Self-Tracking-Technologien versprechen eine personalisierte, partizipative und präventive Gesundheitsvorsorge. Doch wer definiert was Gesundheitsdaten sind oder was „gesund“ ist? Spazierengehen, Lebensmitteleinkauf, Schlafen und Menstruation werden ebenso gesammelt und analysiert wie intimste Details. Daten aus Fitness-Armbändern, Smartwatches (sog. Wearables) oder Smartphone Apps werden bereits von Krankenversicherungen genutzt, um gesundes Verhalten mit Rabatten zu belohnen. Dabei gibt es kaum Belege dafür, dass Apps und Wearables sich positiv auf unser Gesundheitsverhalten auswirken.

Kritikerinnen wie Dr. Btihaj Ajana vom King‘s College London argumentieren, dass ein Übermaß an Wissen über den eigenen Körper zu Überdiagnostizierung und -behandlung führen könnte. Ein Widerspruch zum Versprechen eines kosteneffizienteren Gesundheitssystems durch Self-Tracking. Darüber hinaus kann es Angst und Stress bereiten. Die australische Soziologin Prof. Deborah Lupton beschreibt dieses Phänomen als „Cyberchondrie“, eine digitale Version der Hypochondrie. Eine Studie der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und der Universität zu Köln zeigt zudem, dass die Nutzung fitnessbezogener Apps langfristig dazu führen kann, das Solidaritätsprinzip in der Krankenversicherung in Frage zu stellen.

Während die Selbstbeobachtung und Erkundung des Körpers im Zuge der Frauenbewegung in den 1970er Jahren ermächtigte, werden Körper durch (verzerrte) Algorithmen wieder zu einer statistischen Norm, vermeintlich neutral und unpolitisch. Einerseits verspricht die Digitalisierung individualisiertere Behandlungsmöglichkeiten, gleichzeitig negiere man aber selbst eine so grundlegende Kategorie wie Geschlecht, so Karen Walkenhorst, Vorständin bei der Techniker Krankenkasse. Ungelöste Probleme der analogen Medizin werden so im Digitalen fortgeschrieben. Die neoliberale Ideologie der Eigenverantwortung blendet Ungleichheiten und Machtverhältnisse aus.

Die digitale Selbstüberwachung fördert die Personalisierung von Risiken: Gesundheitsgefährdende soziale Missstände wie Ungleichheit, Armut und Rassismus oder auch Umweltbelastungen, die kollektive und strukturelle Antworten verlangen, kommen darin nicht vor. Für Ajana verläuft die Verschiebung der Verantwortung „parallel zum Rückgang der staatlichen Unterstützung für Sozial- und Gesundheitsprogramme“.

Die Soziologin Prof. Allison Pugh, University of Virginia, zeichnet zwei Zukunftsszenarien: Entweder die Automatisierung verschärft die Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung noch. Wer menschliche und wer maschinelle Pflege erhält, wird dann eine Klassenfrage. Oder wir sehen die Pflege „als ein Menschenrecht – ergänzt durch Maschinen, aber nicht ersetzt.“

Eine feministische Politik der Fürsorge, die von den Bedürfnissen aller Menschen ausgeht, wird in der digitalen Transformation wichtiger denn je. Tamar Sharon macht deutlich: Es braucht ein kritisches Bewusstsein von Medizinerinnen, Forschenden und Bioethikerinnen, interdisziplinäre Zusammenarbeit und neue politische Rahmenbedingungen.

Ohne Widerstand von unten wird es nach der britische Professorin Helen Hester jedoch keine Veränderungen geben:

„Technologien wurden entwickelt, um profitabel zu sein und nicht, um der absoluten körperlichen Autonomie und der Reproduktions- und Arbeitsgerechtigkeit zu dienen, und deshalb müssen wir sie uns aneignen und uns darauf konzentrieren, eine Biopolitik mit feministischen Zielen zu schaffen.“

Mit dem feministischen Kollektiv Laboria Cuboniks hat Hester 2015 das „Xenofeministische Manifest“ verfasst. 2018 erschien ihr Buch „Xenofeminism“ (Polity Press). Darin zeigt sie an Beispielen wie dem Kollektiv GynePunk, das gynäkologische Geräte mit 3D-Drucker herstellt, das emanzipatorische Potential neuer Technologien.

In Berlin entwickelt und fördert die gemeinnützige Organisation Superrr Lab, gegründet von Elisa Lindinger und Julia Kloiber, feministische Technologien für inklusive digitale Zukünfte. Dark Matters Database ist eins von zwölf Projekten aus ganz Europa, das Superrr Lab 2021 im Rahmen des „The New New“ Fellowships gefördert hat. Imogen Malpas, medizinische Anthropologin und Journalistin in London, möchte erreichen, dass marginalisierte Gruppen in der medizinischen Versorgung ernster genommen werden. Dazu soll eine Online-Datenbank entstehen, das unterrepräsentierte Krankheitsbilder von Schwarzen, Indigenen und People of Colour (BIPoC) dokumentiert. BIPoC auf der ganzen Welt können Informationen über Symptome, in Form von Text und/oder Bildern, anonym einsenden. Die Dark Matters Database soll sowohl Medizinerinnen als auch BIPoC dienen:

„Zwar ist es Aufgabe von Ärztinnen, Diagnosen zu stellen – aber es hilft, wenn man als Patient*in die Sprache und die Werkzeuge dafür hat, sich selbst für seine eigene Gesundheitsversorgung einsetzen zu können und darauf zu drängen, dass Symptome ernst genommen werden.“

Julia Friesel, Marie Kochsiek und Tina Baumann haben 2018 das Bloody Health Kollektiv gegründet, um eine Alternative zu den kommerziellen, datensammelnden Zyklus-Tracking-Apps zu entwickeln. Ihr Motto lautet: „Deine Daten, deine Wahl“. Unter anderem gefördert von Superrr Lab gibt es seit Anfang 2021 ihre Open Source-App Drip im Google App Store. Persönliche Daten werden bei Drip nicht auf externen Servern gespeichert, sondern lokal auf dem Handy und verschlüsselt. „Bei anderen Menstruations-Apps wird weitergegeben, wann ich Sex hatte oder Rückenschmerzen. Ich werde dabei noch dazu behandelt, wie ein kleines Mädchen im Blumenkleid“, erklärt Programmiererin Marie Kochsiek, die im feministischen Hackspace Heart of Code aktiv ist. Viele Apps kommen in Rosa, mit Blumen, Schmetterlingen oder verschämter Sprache daher, bedienen Körpernormen und Stereotype. So ist dann z.B. der Kinderwunsch einprogrammiert. Drip ist geschlechtsneutral, klischee- und normfrei designt. Anstatt eines Algorithmus, der einen willkürlichen Durchschnitt berechnet, wurde die wissenschaftlich geprüfte symptothermale Methode zur Berechnung der Fruchtbarkeit eingesetzt. Nutzende können selbst wählen, welche Funktionen sie verwenden. Mit ihrem Feedback wird die App ständig weiterentwickelt. Als nächstes soll Drip für Apple-Geräte angeboten und in verschieden Sprachen übersetzt werden. Jede*r ist eingeladen mitzumachen, sagt Marie Kochsiek:

„Technologie bestimmt uns jeden Tag so sehr, dass es toll ist, sich auch mal an den Fahrersitz zu setzen, wenn ich die Möglichkeit habe, etwas zu verändern.“