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Winter 4/2024

Freund*innenschaft ist unsere Brücke über unwägbares vermintes Gelände

von Isolde Aigner

(aus WIR FRAUEN Heft 4/2024)

Freund*innenschaft bezeichnet eine auf gegenseitige Achtung, Zuneigung und Vertrauen gegründete Beziehung zwischen Menschen oder Gruppen, die unabhängig von verwandtschaftlichen Bindungen und Liebesverhältnissen existiert. Die feministische Theoretikerin Christina Thürmer-Rohr spricht von einer Beziehung, in der man nicht aufgrund von verwandtschaftlicher oder nationaler Zugehörigkeit in der Pflicht steht und die nicht von einer hierarchischen Anordnung (z.B. Ehefrau gegenüber Ehemann, Eltern-Kind-Beziehung) geprägt ist. Damit unterscheidet sie sich auch von s.g. Allyships, die die Autorinnen María do Mar Castro Varela und Bahar Oghalai als aktives Eingreifen in Privilegierungs- und Deprivilegierungs-Strukturen verstehen. Dabei setzt sich ein Mitglied einer dominanten oder Mehrheitsgruppe für eine unterdrückte Gruppe oder Person ein und unterstützt sie.

Freundschaftliche Beziehungen sind vielfältig und überschreiten Grenzen zwischen Herkunft, Klasse, Alter, geschlechtlicher oder sexueller Identität.

Herausforderung im Kontext von Ungleichheit, Care Krise und Kapitalismus

Ob und wie wir als Frauen Freund*innenschaften pflegen können, hängt laut der Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach maßgeblich von den jeweiligen Ressourcen ab: Frauen auf dem Land mit wenig finanziellen Ressourcen sowie Mobilitätsmöglichkeiten sind isolierter und haben mehr Mühe, Freund*innenschaften aufrecht zu erhalten als privilegierte Frauen in städtischen Regionen. Zudem leben wir im Netzwerkkapitalismus, der von uns verlangt, nützliche Beziehungen einzugehen, so dass die Unterscheidung von beruflichen und persönlichen Freund*innenschaften zunehmend aufgelöst und einem Nutzenkalkül unterworfen wird.

Mehrfachbelastungen zwingen Frauen dazu, sich Unterstützungssysteme zu suchen oder zu bauen und dabei auch auf Freundinnen angewiesen sind. So gehen Frauen mitunter Beziehungen ein, die auf Verpflichtungen beruhen und nicht allein auf Liebe, Freude und gegenseitiger intellektueller Inspiration beruhen. Gleichzeitig ermöglicht uns Freund*innenschaft, wie vielleicht keine andere Beziehung, kapitalistischen Logiken, Zwängen und Rentabilität hartnäckig zu trotzen.

Vom Dreiklang der Freund*innenschaft zur politischen Praxis

Castro Varela und Oghalai beschreiben Freund*innenschaft als Dreiklang von Poetik, Erotik und Ethik. Es ist das Konzept der Poetik, das herrschende Grammatik irritiert, eigenen Regeln folgt und mit Metaphern und Bildkompositionen den Lesenden Freiräume des nicht-geradlinigen Denkens eröffnet.

So auch Freund*innenschaften, die das Potential entfalten, „die Regeln jener institutionalisierten Formen des (politischen) Miteinanders zu brechen und durch alternative, ästhetische und poetische Beziehungsformationen zu ersetzen.“

Erotik verstehen die beiden Autorinnen in einem erweiterten Sinne als Zärtlichkeit und Empathie, die nicht sexueller Art sein muss und Nähe und Intimität schafft.

Sie zitieren die Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak, der zufolge Ethik der Moment ist, in dem wir vielleicht das Richtige tun – eine Praxis, die gelernt werden muss. Freund*innenschaften stellen das Terrain dar, auf dem wir unsere ethischen Praxen einüben.

Jenen Dreiklang können wir als rhythmischen Sound verstehen, den jede Freund*innenschaft für sich eigens abmischt und gestaltet. Sei es in Momenten des gemeinsamen Lachens, der Leidenschaft und Schwerelosigkeit – ein Flow, in dem die Zeit stillsteht. Oder in tiefen Gesprächen, geprägt von einer radikalen Ehrlichkeit über Trauer, Verletzungen, Schmerzen, Wut, (auch politische) Sehnsüchte und Hoffnungen, in denen wir einander emotional und intellektuell zu berühren vermögen.

Es ist dieser Dreiklang, der für eine politische Praxis produktiv gemacht werden kann. „Der Wille zur Herrschaft und die unendlichen Manöver, die Menschen erlernen, um sich durchzusetzen“, mögen es schwer machen, an befriedigende Freund*innenschaften zu glauben. Dabei sind es laut Castro Varela und Oghalai gerade die Freund*innenschaften, die es uns ermöglichen das Gute herauszubilden und das Böse zu zähmen.

Sie schaffen es, einander zu lauschen und befähigen uns, in politischen Auseinandersetzungen die Worte wohlüberlegt zu setzen, ohne das Gegenüber zu verletzen. Sie sind heilende Netzwerke und eröffnen den Raum, „Fehler [zu] machen und uns [zu] berauschen an den pluralen Möglichkeiten des Denkens und Fühlens: verrückt, unanständig und gewagt.“ Ein Raum des einzigartigen gegenseitigen Vertrauens und Miteinander-Seins und Werdens, der uns so aufbaut und Kraft schenkt, „dass wir nicht einknicken, wenn andere uns zeigen, dass sie uns verachten“.

Freund*innenschaften stellen so für die Autorinnen eine demokratische Praxis dar, die Strategien des Umgangs miteinander offenlegt, um trotz Differenzen – in Bezug auf Interessen, Erfahrung, Identität und Charakter – auf eine konstruktive Art und Weise zu funktionieren. Dabei geht es um die bewusste Entscheidung, auf das Eigeninteresse, zugunsten einer gegenseitigen Verantwortung, einer gemeinsamen politischen Entscheidungsfindung, zu verzichten – es ist das, was laut Castro Varela und Oghalai den Raum für Kooperation, Allianzen und Solidarität und für gemeinsamen Widerstand gegen herrschende Verhältnisse eröffnet, ohne auf eine Vereinheitlichung von Zielen und Identitäten angewiesen sein zu müssen.

Gerade die zu bewältigenden, komplexen Krisen machen Freund*innenschaft als politische Praxis wichtiger denn je. Sie bilden für Castro Varela und Oghalai „die Brücke über unwägbares vermintes Gelände“ und zeigen uns laut Thürmer-Rohr, wie wir Indifferenz und Hoffnungslosigkeit trotzen können.

Die Ausgabe kann hier bestellt werden.

Viele berühmte Frauenfreundschaften im letzten Jahrhundert haben Krieg, Ausbeutung und patriarchalen Strukturen getrotzt.

Auf den kommenden Seiten schreibt Anni Mertens über die Freundinnenschaft vier britischer Philosophinnen. Aus dem Kleinen Lexikon des Wir Frauen-Kalenders 2024 veröffentlichen wir Freundinnenporträts von Fasia Jansen und Ellen Diederich sowie Audre Lorde und Gloria I. Joseph. Sie zeugen von intellektueller Entfaltung und Solidarität, gemeinsamen Kämpfen in der globalen Frauen- und Friedensbewegung, feministischem Aktivismus gegen Rassismus und geschlechtsspezifische Gewalt.

Melanie Stitz stellt das Konzept der Sororidad vor, das in der feministischen Bewegung in Argentinien, in den kollektiven Kämpfen gegen Femizide, für das Recht auf Abtreibung und gemeinschaftliche Sorge füreinander eine wichtige Rolle spielt. Wirtschaftskrise, massive Kürzungen und die rechte Regierung stellen die feministischen Kollektive jedoch vor Herausforderungen, an gegenseitiger Solidarität und Unterstützung festzuhalten.

In dem Textauszug „Revolution der Verbundenheit. Wie weibliche Solidarität die Gesellschaft verändert“ wendet sich Franziska Schutzbach gegen eine Separierung von Frauen und tritt ein für eine weibliche Verbundenheit, die auf gegenseitige Ermöglichung, der Anerkennung von Differenz und radikale Selbstkritik setzt, um patriarchale Strukturen auszuhöhlen.

Florence Hervé zeigt eindringlich, wie in Konzentrationslagern länderübergreifende Freundinnenschaften entstanden, die sich der Entmenschlichung und Entwürdigung entgegenstellten, in dem sie füreinander sorgten, einander Kraft gaben und gemeinsam Widerstand praktizierten.

Melanie Stitz hat ihre Freundinnen zu ihrem Leben in einer Hausgemeinschaft als Wahlfamilie interviewt und spricht mit ihnen über das Teilen des gemeinschaftlichen Lebensraums und Alltags, gegenseitige Vertrautheit und Verantwortung.

Wir illustrieren den Schwerpunkt mit Bildern der Künstlerin Jazmín Varela – mehr zu ihr auch auf den kommenden Seiten.


Literaturtipp
Bahar Oghalai und María do Mar Castro Varela: Freund*innenschaft. Dreiklang einer politischen Praxis, Münster: Unrast Verlag.