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Winter 4/2024

„Ich bin hier“ – Über die Bedeutung von Sororidad

von Melanie Stitz

(aus WIR FRAUEN Heft 4/2024)

2015 schrieb die feministische Bewegung in Argentinien Geschichte: Die Bewegung um Ni una menos (Nicht eine weniger) flutete die Straßen mit kraftvollen Demonstrationen – der Femizid an Chiara Páez war zum zündenden Funken geworden. Seitdem mobilisierte Ni una menos massenhaft gegen Gewalt an Frauen und für das Recht auf Abtreibung.

Rosario, die drittgrößte Stadt Argentiniens, inspirierte hierzulande auch als Modell einer „sorgenden Stadt“. Dort nahm eine feministische Stadtplanung die Bedürfnisse der Bewohner*innen zum Ausgangspunkt, stärkte nachbarschaftliche Netzwerke und ermöglichte die gemeinschaftliche Organisierung von Sorgearbeit. 2023 gaben 48,5 % der Wähler*innen in Rosario ihre Stimme an die linke Bewegungspartei Ciudad Futura (frei übersetzt: Stadt der Zukunft) und brachten leidenschaftliche Feminist*innen ins Stadtparlament.

Als Teil und im Umfeld der queer-feministischen Bewegung gründeten sich auch Kunst- und Comic-Kollektive, so auch Cuadrilla Feminista, ein Zusammenschluss von Kreativen in Rosario. Jazmín Varela ist eine von ihnen. Sie veröffentlichte Fanzines und Bücher, darunter „Tengo unas flores con tu nombre (guía práctica de sororidad)“ (2018 / übersetzt in etwa: „Ich habe Blumen mit deinem Namen – ein praktischer Leitfaden der Sororidad“). Farbige Illustrationen bringen auf den Punkt, was Sororidad – die Verbindung aus Schwesterlichkeit und Solidarität (Soror= Schwester, Solidaridad=Solidarität) – konkret und praktisch bedeutet: Wir gehen zusammen. Ich glaube dir. Ich bin hier. Ich warte, bis du im Haus bist.

Im Schwerpunkt dieser Ausgabe dürfen wir einige der im Original 20 farbigen Zeichnungen abdrucken – dafür danken wir Jazmín Varela!

Seit Jahren schon müssen soziale und feministische Fortschritte gegen die Folgen einer gravierenden Wirtschaftskrise verteidigt werden – und seit November 2023 zudem noch gegen den rechtsextremen, „anarcho-kapitalistischen“ Präsidenten Javier Milei und seine Regierung. Für ihn ist Feminismus ein „lächerlicher und unnatürlicher Kampf zwischen Mann und Frau“. Zahlreiche Proteste und Großdemonstration für „Brot, Frieden, Land, Wohnung und Arbeit“ stehen symptomatisch für seinen offenbar nachlassenden Rückhalt in der Bevölkerung.

Wir haben Jazmín Varela nach ihren Erfahrungen und Einschätzungen gefragt:

Die Milei-Regierung ziele mit ihren Angriffen in erster Linie auf Kulturschaffende, feministische Errungenschaften und Menschenrechte, schreibt sie in ihrer E-Mail. Arbeitsmarktderegulierung, Kürzungen bei Subventionen und staatlicher Unterstützung sowie ein Mangel an Maßnahmen zur geschlechtlichen Gleichstellung erhöhen die Arbeitsunsicherheit, verringern die Chancen und erschweren die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Arbeiterinnen. Das treffe insbesondere auch selbstständig erwerbstätige Frauen wie Grafik- und Kultur*arbeiterinnen. Angesichts von Wirtschaftskrise und brutaler Kürzungspolitik bleiben die Aufträge aus. Die eigene Arbeit komme nicht voran, denn niemand denke an Kunst und Illustration, wenn das Geld kaum mehr zum Leben reicht. Kulturarbeiterinnen suchen also nach Nebenjobs und Strategien, um irgendwie über die Runden zu kommen. So gehen Gruppen auseinander und erodieren die Kollektive:

„Wenn die Bedürfnisse immer grundlegender werden, wird es schwierig, mit anderen in Kontakt zu kommen. Obwohl wir wissen, dass der einzige Ausweg darin besteht, Gemeinschaften zu bilden und einander zu unterstützen. Wir stehen vor einer Regierung, die will, dass wir Individualist*innen sind, die uns vereinzeln will und uns ständig mit Aggressionen und Angriffen auf die Rechte bombardiert, die wir erkämpft haben. Es braucht mehr Anstrengung und ist zugleich wichtiger denn je, sich neu zu gruppieren, um eine Kultur und ein Bild des Widerstands zu entwickeln. Es gilt, Kunst zu nutzen, um Opposition sichtbar zu machen und gemeinsam zu überlegen, wie wir den Kampf begleiten können. Es gibt viele Fronten. Wir müssen die kulturelle Produktion als Instrument des politischen Kampfes reaktivieren.“

Weitere Infos und Kontakt zur Künstlerin wie zum Cuadrilla-Kollektiv:
www.instagram.com/jazminvarela_
www.instagram.com/cuadrillafeminista


Sororidad

… erklärt Andrea Aramburú Villavisencio und bezieht sich dabei auf Claudia Andrea Bacci, bezeichne eine ethische Haltung und Praxen der Fürsorge angesichts der vielen Facetten allgegenwärtiger Gewalt gegen Frauen. Solidarität, Partnerschaften, Komplizenschaft oder Bündnisse – all das macht Schwesternschaft (oder auch Sisterhood) aus. Sie beruht auf ähnlichen Erfahrungen und eine quasi auf Verwandtschaft beruhende Verbindung. Das Konzept der Sororidad lege nach heutigem Verständnis dagegen einen besonderen Fokus auf Differenz. Die „imaginäre Einheit“ der Schwestern werde immer wieder durch die Tatsache in Frage gestellt, dass Frauen eine heterogene Gruppe sind, mit unterschiedlichen Kämpfen und Geschichten.

„Während hegemoniale Vorstellungen von Schwesternschaft, die im globalen Norden geprägt wurden, die nahtlose Einheit innerhalb eines gemeinsamen Kontexts betonen, verweist das Konzept der Sororidad auf ein Netzwerk gegenseitiger Fürsorge über eine Vielzahl von Positionen und Lebenssituationen hinweg“, so Andrea Aramburú Villavisencio.

2018 fand der Begriff Aufnahme in die Real Academia Española (RAE) – eine Institution vergleichbar mit dem deutschen Duden. Die Philologin und Linguistin Judit González hatte bereits 2016 eine Empfehlung dafür ausgesprochen: Der Begriff tauche immer häufiger in den Medien auf und fülle eine lexikalische Lücke.

Der Begriff der Schwesternschaft hat eine lange Geschichte, nachgezeichnet u.a. im spanischsprachigen Wikipedia-Eintrag. Demnach habe ihn die mexikanische Wissenschaftlerin Marcela Lagarde in den 1990er Jahren zum ersten Mal in feministischem Sinne verwendet, nachdem sie den Begriff im Französischen sororité und im Englischen sisterhood gesehen habe.

Die Philosophin und Politikerin Clara Serra definiert Sororidad als einen „Pakt zwischen Frauen“ im Gegensatz zu dem vom Patriarchat auferlegten „Modell des Wettbewerbs“ – ein kraftvolles Mittel im Kampf gegen Ungleichheit.

Für die Schriftstellerin Nuria Varela war die gegenseitige Fürsorge unter Frauen schon immer eine Lebensweise, „etwas, das wir sehr gepflegt haben“, aber die Neuheit liege in der Schwesternschaft als „Rebellion gegen das Patriarchat“ und das (Selbst-)Verständnis von Frauen als Konkurrentinnen.

Auch deshalb sind auf den Demonstrationen unter anderem zum 8. März immer wieder Botschaften wie diese zu lesen: „Die Person neben dir ist eine Genossin, keine Konkurrenz“, „Wenn sie eine anrühren, rühren sie uns alle an“ oder ein aktualisierter Klassiker: „für mich und für alle meine Genossinnen“.

Quellen:
https://maifeminism.com/periperformative-speech-performance-of-sororidad-in-jazmin-varela
https://efeminista.com/sororidad-mujeres