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Herbst 3/2024

Es sind die gesellschaftlichen Verhältnisse

von Gabriele Bischoff

(aus WIR FRAUEN Heft 3/2023)

Sicherheit – was für ein ambivalentes Thema in einer komplexen und diversen Welt. Der dringliche Ruf nach Sicherheit wird vor allem dann laut, wenn Angst um sich greift – ob in der Nachbarschaft, der Gemeinde oder dem Land.

Die Angst kann verschiedene Ursachen haben. Sicher ist: gegen menschliche Gewalt reagieren Politik und Staat mit einem Sicherheitskonzept, das sich leider zu oft auf repressives Handeln von Ordnungskräften und waffenstarker Armee konzentriert. Dazu braucht es in Zeiten von Umweltkatastrophen eine vorausschauende Gefahrenabwehr, beispielsweise durch Feuerwehren und Technisches Hilfswerk, deren Zivilschutz überwiegend auf – organisiertem – Ehrenamt aufgebaut ist. Durch das Aufrufen „Innerer Sicherheit“ ist es für Politiker:innen jeglicher Couleur verhältnismäßig einfach, sich ein Macher:innen-Profil zu geben. Doch die eigentlichen Probleme im sozialen Sicherheitsnetz sind vielfältiger und deshalb wird lieber nach vermeintlich einfachen Lösungen gegriffen.

Menschen fühlen sich bedroht durch steigende Kosten in unsicheren Wirtschaftszeiten. Sie sorgen sich um die Gesundheit der Lieben und womöglich auch um Klimawandel oder Kriegsgefahr. Die konkrete oder unbestimmte Angst wird oftmals übertragen: auf das Unbekannte, die „Clans“, auf migrantisch wahrgenommene Männer oder auf trans Personen, die Einlass in die Frauensauna begehren. Die Wut darüber, dass „der Staat“ vermeintlich nichts tut, richtet sich gegen übermütige Jugendliche im Schwimmbad oder Demonstrant:innen, die sich auf Straßen oder Rollbahnen kleben.

Um Gefühle in persönlichen oder familiären Krisen zu bewältigen, braucht es Anlaufstellen durch ortsnahe Beratungseinrichtungen. Und mit einem gerechten Mindestlohn, bezahlbaren Wohnraum, einem auskömmlichen Bürger:innengeld, zuverlässigen öffentlichen Nahverkehr und einem nicht überforderten Gesundheitssystem stellen sich solche Gefühle vielleicht weniger ein.

Doch das ist leichter gefordert als realisiert in einem kapitalistischen System, das die Unterdrückten und Ausgebeuteten braucht. Presseberichte und staatliche Institutionen sind geprägt von sexistischen, rassistischen und paternalistischen Vorannahmen, die trotz Antidiskriminierungsgesetzen vor allem marginalisierte Menschen treffen. Das ist auch im Bericht von der Sommerakademie der Feministischen Rechtswissenschaft, gewidmet in diesem Jahr „Feministischen Perspektiven auf Sicherheit und Gewalt“, eindrücklich dargestellt. Die Teilnehmer:innen fragten u.a. nach den Narrativen, die der allgemeinen Vorstellung von Sicherheit und Gewalt zugrunde liegen. Um einen sicheren Lernraum zu schaffen, gab es ein Awareness-Konzept und einen braver space.

Ängste werden auch von Machthabenden oder denen, die Macht haben wollen, geschürt. Tatsächlich ist diese Unsicherheit immer auch nützlich und staatsformend, die Verhältnisse sind menschengemacht. Es macht einen Unterschied, ob die Gemeinde Steuergelder für gering bezahlte Ordnungskräfte ausgibt oder für Sozialarbeiter:innen in (Familien-)Beratungsstellen.

„Ruhe – Ordnung – Sauberkeit“ sollen Stärke des Staats und vermeintliche Sicherheit suggerieren. Dabei schwächt die „Law and Order“-Strategie den Wohlfahrtsstaat. Kein Wunder, dient Politik doch vor allem dem Kapital, anstatt die wirtschaftliche Lage der Mehrheit im Blick zu haben und allen ein halbwegs gutes Leben (was nicht synonym zu setzen ist mit: sicheres Leben) zu ermöglichen.

Mehr Polizei und härtere Strafen, mehr Überwachung öffentlicher Plätze, das geht meistens für diejenigen schief, die diskriminiert werden. Sie werden von Sicherheitskräften entweder nicht gesehen, als „Risikogruppen“ bevorzugt kontrolliert oder von Opfern zu Täter:innen gemacht.

Psychologisch gut erklärbare Verdrängung und Übertragung lenken davon ab, dass laut einer vom Kinderhilfswerk Plan International Deutschland kürzlich erstellten Studie ein gutes Drittel der befragten (jungen) Männer erklärte, für sie sei es legitim, die eigene Partnerin zu schlagen, und dass viele das auch schon getan haben.

Der Feind im nahen Umfeld ist so viel konkreter als der „Fremde“ da draußen, der aber viel leichter und mit weniger Risiko verantwortlich gemacht und angezeigt werden kann – sofern er nicht eine Fanbase hinter sich weiß.

Das Transformative Justice Kollektiv Berlin stellt daher das Sicherheitsversprechen des Staates in Frage, weil Polizei, Gefängnis und Grenzen mehr Gewalt (re)produzieren, anstatt sie zu beenden. Das Kollektiv schlägt Communitybasierte Alternativen für Sicherheit vor, welche die Wurzeln von Gewalt in Communitys und Beziehungen tatsächlich angreifen. Konkret bedeutet das: Nachbarschaften, Familien, Freund:innen oder Gruppen mit gemeinsamen Themen organisieren kollektive und alltägliche Unterstützung. So bleibt niemand allein, und es wird deutlich, dass Gewalt alle betrifft, wenn auch auf verschiedene Weise.

In dem Toolkit für Aktivist:innen mit dem Titel „Was macht uns wirklich sicher?“ beschreibt Melanie Brazzell es so: „Es kommt vor allem darauf an, die von Gewalt Betroffenen zu ermächtigen, und nicht so sehr, sie zu beschützen. Transformative-Justice-Ansätze helfen Betroffenen, sich gemeinsam mit Verbündeten die eigene Selbstbestimmung zurückzuerobern (statt als Machtlose Schutz von außen zu suchen). Diesen Strategien liegt die Annahme zugrunde, dass Betroffene von Gewalttaten über umfangreiches Wissen und Fähigkeiten verfügen, die sie zu potenziellen Akteur_innen sowohl der eigenen als auch gesellschaftlicher Veränderung machen.“

In einer arbeitsteiligen Welt scheint Selbsthilfe aufwendiger als der Ruf nach mehr Polizei, mehr Überwachung, vorsorglichem „Unterbindungsgewahrsam für (linke) „Gefährder“ oder Abschiebung vermeintlich nicht deutscher Straftäter. Zivilcourage, „Stopp!“ rufen, wenn jemand beleidigend, übergriffig oder gar gewalttätig wird – das muss geübt werden, ob im öffentlichen oder digitalen Raum.

Seien wir realistisch: Sicherheit durch „modernisierte“ Armeen und „bessere“ Waffensysteme bleibt eine brandgefährliche Illusion. Knapp 555 Mrd. Euro Umsatz hat die Rüstungsindustrie in 2022 weltweit gemacht. Geld, das für soziale Sicherheit, gutes Auskommen und die Linderung globaler Probleme, von Klimawandel bis Hunger, (angeblich) fehlt.

Mit diesen hier nur angerissenen Unsicherheitsfeldern befassen sich die Artikel im Schwerpunkt: Isolde Aigner hinterfragt kritisch die „Versicherheitlichung“ der Gesellschaft und plädiert für solidarische Beziehungen und gegenseitige Unterstützung. Annegret Kunde berichtet von steigender Gewalt in der Partnerschaft und darüber, wie Femizid vor Gericht verhandelt wird. Sie sprach zudem mit der Politikwissenschaftlerin Patricia Rinck über feministische Sicherheitsstudien und Frauen in Friedensprozessen. Klara Schneider hat sich die Untersuchung von Caroline Criado-Perez zur Diskriminierung von Frauen aufgrund datenbasierter Entscheidungen angesehen.
Nerocy Chanthirakanthan und Anni Mertens befassen sich mit den Hell- und Dunkelfeldern der Kriminalstatistiken, die sich Lebensrealitäten allenfalls annähern.

Den Schwerpunkt illustrieren, mit freundlicher Genehmigung von Women Photograph, Fotografien aus dem Bildband „What we see. Women and nonbinary perspectives through the lens“. Mehr darüber ist in der Rubrik „Kultur“ (S. 29) zu lesen.

Die Ausgabe kann hier bestellt werden.