Enttäuschung
Jede Enttäuschung öffnet die Augen. Enttäuschung wirft uns zurück auf unsere Hoffnungen und Erwartungen. Vielleicht waren sie zu hoch gesteckt, nicht offen ausgesprochen, geschweige denn verhandelt? Was wollten wir nicht sehen, wissen und uns eingestehen?
Enttäuschung tut weh, und das meist allen Beteiligten. Andere zu enttäuschen ist ein Alptraum für alle, die eh schon glauben: „Ich bin eine Mogelpackung. Eines Tages fliegt der ganze Schwindel auf…“. Viele Frauen kennen sich bestens damit aus. Also sich und anderen lieber nichts versprechen und Verantwortung zu übernehmen meiden? Enttäuschung macht wütend, traurig und verletzt. Sie kann ein Anlass sein, der Wirklichkeit gewahr zu werden, Grenzen anzuerkennen – bei sich und anderen – und miteinander auszuhandeln, was machbar ist und was es dazu braucht.
Politische Enttäuschungen brauchen Analyse: Wo stehen wir, wie ist es um die Kräfteverhältnisse bestellt und wo sind wir darin? Erwarten wir Verbesserungen möglichst morgen oder beziehen wir Sinn und Lebensqualität aus dem Sich-Einmischen und Politisch-tätig-Sein an sich? Auch hier ist nützlich: Aufstehen, Krone richten, weitergehen. Siegreiche Niederlagen produktiv machen, Erfolgen misstrauen. Letzteres führt Andi Zeisler in ihrem Buch „Wir waren doch mal Feministinnen. Vom Riot Grrrl zum Covergirl“ anschaulich vor. Zeisler, Gründerin des popfeministischen Magazins Bitch, reflektiert den „Ausverkauf einer politischen Bewegung“ und bilanziert die eigenen einstigen Hoffnungen. Endlich scheint der Feminismus im Mainstream angekommen und hip zu sein, Hollywood-Stars und Pop-Ikonen bekennen sich gleich reihenweise dazu; Unterhosen, Soft-Drinks oder Body-Lotions werben mit „Empowerment“ und frechen Frauen. Markt- oder auch Choice-Feminismus nennt Zeisler dieses Phänomen. Zugrunde liegt die (den Absatz fördernde) Idee, Feminismus sei eine Frage von Lifestyle und Konsumentscheidung. Dazu gehören endlose Debatten, ob mir als Feministin dieser Film oder jenes Buch denn eigentlich gefallen „darf“. Was feministisch sei, ist dabei relativ beliebig und gänzlich individuell. Egal, wie frau entscheidet, wähnt sie sich dabei frei und tut sie es „nur für sich“, dann wird’s wohl feministisch sein. Die vermeintliche Kritik an der genormten Schönheit erachtet Zeisler als großes Ablenkungsmanöver, das ganze Blogs füllt und viele Energien bindet. Mag Dove auch damit werben, dass schöne Frauen auch mal alt und mollig sein dürfen, wird damit neuerlich doch nur bestätigt, dass es für Frauen schlichtweg alles sei, sich – mit gesellschaftlichem Segen – schön zu fühlen. Zeisler ruft die Kernthemen des Feminismus in Erinnerung: Lohnungleichheit, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, institutionalisierter Rassismus und Sexismus, strukturelle Gewalt und körperliche Autonomie. Diese Themen sind weder cool noch sexy, sie nerven – und das muss so sein.
Mit Schock und Enttäuschung reagierten viele auf Trumps Wahl zum Präsidenten. „Ich jedenfalls bin nicht traurig über die Niederlage des progressiven Neoliberalismus“, schreibt Nancy Fraser jüngst in ihrem Aufsatz „Für eine neue Linke“ (Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/17). Statt „moralischer Verdammung“ empfiehlt sie „politische Überprüfung“. Progressive Kräfte hätten, unbewusst oder auch nicht, dem Kapital „ihr Charisma geborgt“ und damit Prozesse wie die Deregulierung des Bankensystems, Prekarisierung, Schwächung der Gewerkschaften, soziale Spaltung usw. flankiert. Unbenommen davon sei der Aufstieg auch zumindest einiger talentierter Frauen, Minderheiten, Schwulen und Lesben in der „Winner-take-all-Hierarchie“ zum Maßstab von Empowerment und Emanzipation geworden. Antihierarchische, egalitäre, klassenbewusste und antikapitalistische Vorstellungen von Emanzipation seinen dahinter zurück getreten bzw. marginalisiert worden. So erklärt Fraser, wie es zu der unmöglichen Wahl zwischen reaktionärem Populismus (Trump) einerseits und progressivem Neoliberalismus (Clinton) andererseits hat kommen können. Das „kleinere Übel“ zu wählen, sei keine Perspektive und vertiefe nur die Spaltung. Es gelte, die Gunst der Stunde zu nutzen und „das Fundament für eine machtvolle neue Koalition (zu) legen, die sich vornimmt, Gerechtigkeit für alle zu erkämpfen“. „Dazu müssen wir die Leiden von Frauen und Schwarzen Menschen mit jenem Leid in Beziehung bringen, das so viele Trump-Wähler quält“, so Fraser. „Feminismus ist für alle!“ – unter diesem Motto kamen beeindruckend viele Menschen beim Women´s March gegen Trump zusammen. Vielleicht Zeichen eines neuen Anfangs, der Hoffnung macht.
Von Melanie Stitz
Inhalt dieser Ausgabe
Schwerpunkt: ENTTÄUSCHUNG
„In Japan habe ich mich nicht als ‚Feministin‘ bezeichnet.“ Ein Interview mit Yuri Ono.
Von Isolde Aigner
„Man wird erst wissen, wie die Frauen sind, wenn ihnen nicht mehr vorgeschrieben wird, wie sie sein sollen.“
Von Christiana Puschak
Hoffnungen und Enttäuschungen – Rückblick auf fast 50 Jahre Aufbruch.
Von Florence Hervé
Runde zwei der Augspurg-Heymann Konfusion in München
Von Kerstin Wolff
Nachrichten, die heute schon wieder nicht in der Zeitung standen.
Von Melanie Stitz
MEINE FEMINISTISCHE WAHRHEIT
„Wenn wir anfangen, füreinander Polizei zu spielen, dann…“ – Ein Gespräch mit Mithu Sanyal.
Von Isolde Aigner
Andere Länder
Mana wahine – Die Stärke von Frauen.
Von Eliane Kurz
„Die Großmütter waren viel freier als ihre Enkelinnen heute“
– Marlene Kienberger sprach mit Julia Kissina
Who cares?! KÄMPFE UM REPRODUKTION UND
GEWERKSCHAFTSARBEIT
„Würden wir nur einen Tag lang so arbeiten, wie gesetzlich vorgesehen…“
Von Katharina Schwabedissen
HERSTORY
Eleanor Marx-Aveling / Edward Aveling: Die Frauenfrage (1887). Wienke Zitzlaff – ein Nachruf. V
Von Stephanie Kuhnen
KULTUR
THE MISANDRISTS – Die Männerhasserinnen
Von Kathrin Schultz
PROJEKTE
Mach’s wie alle: Sei du selbst! Normalisierungspraxen und wir darin
GESEHEN
Geschichte einer Liebe – Freya
Von Gudrun Lukasz-Aden / Christel Strobel
Daten und Taten
Käthe Kollwitz / Shirin Ebadi