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Frühjahr 1/2024

Migrant Mamas

Von Lena Reiner

(aus WIR FRAUEN Heft 2/2019, Schwerpunkt: Girlpower)

„Migrant Mama“ ist ein Projekt, das der negativen Konnotation des Wortes „migrant“ bzw. „Migrant“ etwas entgegensetzen will, so das erklärte Ziel. Entstanden ist aus der Idee das Buch „Mama Superstar“, in dem aus tochterperspektive die Geschichten von elf Frauen erzählt werden, die aus elf unterschiedlichen Ländern nach Deutschland immigriert sind. es handelt von Stolz auf die eigenen Mütter, Lebensfreude und ordentlich Durchhaltevermögen. Farbenfrohe Illustrationen und traditionelle Familienrezepte runden das Gesamtwerk ab. Die erste Auflage mit 5.000 Stück war innerhalb von vier Wochen ausverkauft, die zweite soll Ende Juni erscheinen. Lena Reiner hat Manik Chander und Melisa Manrique, Gründerinnen von Migrant Mama und Autorinnen des Buchs, besucht.

Berlin, 29. April, 9 Uhr 07
Das Kennenlernen der beiden ist eine kuriose Begebenheit. Während Melisa und Manik gar nicht weit voneinander studiert haben – in Kassel und Göttingen nämlich – lernten sie sich stattdessen bei einem Auslandssemester in Mumbai kennen. Und auch dort kamen sie nicht sofort miteinander ins Gespräch. „Ich dachte, Manik sei von der Uni dort, weil sie so indisch aussieht“, erinnert sich Melisa. Sie sei erstaunt gewesen, als sie sie Deutsch sprechen hörte, und gleichzeitig über sich selbst verwundert.

„Ich habe das andersherum oft selbst erlebt: In Italien haben viele wegen meines Aussehens geurteilt, dass ich keine Italienerin sein könne. Bei Manik bin ich selbst nach ihrem Aussehen gegangen“, schildert die gebürtige Peruanerin. Die kleine Anfangsirritation stellte kein Hindernis für die beiden dar, vielmehr waren sie sofort auf einer Wellenlänge. Und weil Frauenrechte an der Uni überall präsent waren, prägten auch Frauenthemen ihre Gespräche. So entdeckten sie schnell, dass sie die Bewunderung für ihre eigenen Mütter teilten. „Wir haben uns irgendwann gefragt, warum wir unsere Mamas so stark finden, suchten Gemeinsamkeiten und entdeckten: Beide haben Migrationshintergrund.“ Aus einem freundschaftlichen Running Gag nach dem Schema „Meine Mama ist viel cooler als deine, weil sie…“ wurde die Idee geboren, zum Thema „migrant mama“ ein Projekt zu starten, „irgendeine kleine Sammlung mit solchen Geschichten“. Irgendetwas, dass migrantische Kinder dazu animieren sollte, stolz auf ihre Mütter zu sein, ergänzt Manik später. Manik blieb noch eine Weile in Indien, Melisa ging nach Deutschland zurück und begann in Berlin im Start-up-Bereich zu arbeiten. Drei Jahre lang blieb „migrant mama“ daher eine bloße Idee. „Ich bin sehr sehr dankbar, dass ich dabei die Idee von social businesses kennen gelernt habe“, sagt Melisa. Doch die Startup-Szene mit überwiegend „full profit“-Organisationen habe sie nicht glücklich gemacht. So fasste sie ihren Entschluss, schmiss ihren Job hin und rief Manik an, um an der drei Jahre alten Idee weiterzuarbeiten.

„Ich kenne mich, ich kann nichts nur halb machen“, erklärt sie. Im Oktober 2017 war es soweit: Manik kam zu ihr nach Berlin für zwei volle Tage „migrant mama“. Aus der vagen Idee wurde ein konkreter Plan für eine Interviewsammlung. Sie wollten die Töchter migrantischer Frauen dazu animieren, ihre Mütter zu interviewen: mit Teebeuteln und einem Gesprächsleitfaden. Apropos „Interview“: Für Melisa ist dieses Gespräch eine Premiere. „Ich habe noch nie ein Interview auf Deutsch alleine gegeben“, verrät sie und achtet daher genau auf jedes Wort, das sie sagt. Die Geschichten fürs Buch hat sie zumeist auf Englisch oder Italienisch verfasst. Ihre Mitautorin Manik schrieb auf Deutsch.

„Ihre Texte waren mir oft zu direkt. Ich sagte dann: ‚Das kannst du so doch nicht schreiben!‘“, erinnert sie sich. Vom Italienischen sei sie gewöhnt, alles indirekter und ausschweifender auszudrücken, erklärt sie und zeichnet eine Wellenlinie in die Luft. Durch die gemeinsame Arbeit am Buch hätten sie sich aufeinander zu bewegt: „Ich wurde ein bisschen deutscher und Manik ein bisschen italienischer.“

Frankfurt am Main, selber Tag, einen verspäteten Zug, 24 NPD-Plakate, sieben Rapsfelder und einige Grübeleien darüber, ob das „typisch Deutsch“ ist, später, knüpft das Gespräch mit Manik nahtlos da an, wo die Zuggrübelei aufgehört hat. Anders als Melisa ist sie in Deutschland geboren und spricht daher selbstverständlich deutsch. (Dafür wird sie auf Hindi wegen ihres deutschen Akzents schlecht verstanden, erfahre ich zwischendurch.) Sie verrät mir, dass sie erst bei der Mitarbeit von Conquer Babel, einer Initiative, die sie mit drei Mitstudent*innen gegründet hat, die Deutschkurse und Dolmetscher*innen für Geflüchtete anbietet, gemerkt habe, was für klischeedeutsche Verhaltensweisen sie manchmal an den Tag lege. „Ich bin immer zu den Terminen gekommen, habe das angepackt, was zu erledigen war, und private Gespräche standen hintenan. Oft blieb dann keine Zeit für sie“, schildert sie. Unter Deutschen sei das ein völlig normales Verhalten. „Oder zumindest unter solchen, die ähnlich sozialisiert sind“, ergänzt sie.

„Ich denke, wir brauchen wieder mehr Offline-Begegnungen“, meint sie, denn „online werden die Filterblasen, in denen wir uns bewegen, immer homogener.“ Bei Conquer Babel habe das mit den Begegnungen wunderbar geklappt. In der Runde aus Studierenden aus aller Welt und deutschen Studierenden mit Migrationsgeschichte fielen bald schon die Geflüchteten nicht mehr auf und packten selbst bei Übersetzungsjobs mit an. „Das Besondere an dem Projekt war, dass wir aktiv nach Unterstützer*innen gesucht haben, die eben nicht Deutsch sind.  Das hat die Migrationsgeschichte der Beteiligten krass aufgewertet.“ Diese Dynamik habe sie darin bestärkt, mit „migrant mama“ eine Bewegung anstoßen zu wollen, die Migrationsgeschichten zu etwas mache, worauf man stolz sein könne – entgegen dem herkömmlichen öffentlichen Bild, in dem diese häufig als ein Makel gelte.

Das Buch sei ein erster Schritt, obwohl das Wort „Migration“ aus seinem Titel verschwunden ist. Sie schmunzelt: „Uns war von Anfang an klar, dass unser Buch ‚My migrant mama is cooler than yours‘ oder kurz ‚migrant mama‘ heißen soll. Nun ist es alles geworden, nur nicht der Titel.“ „Mama Superstar“ hat sich als Titel jedoch bewährt: „Viele kommen wegen des Mama-Themas zu dem Buch und nehmen das Thema Migration dann sozusagen einfach mit“, erklärt sie. „Wir hätten nie gedacht, dass es direkt so viele tolle Reaktionen geben wird“, so Manik. Täglich trudelten E-Mails ein. Besonders gefreut hat sie die Nachricht, dass sich bereits Schulkinder von dem Buch dazu inspirieren lassen, ähnliche Interviews mit ihren Müttern zu führen und zusammenzutragen. „Wir bekommen so viel Liebe“, zitiert sie Melisa.