Zusammen frei sein
von Melanie Stitz
(aus WIR FRAUEN Heft 3/2022)
„Freiheit“ ist ein großes Wort. So groß, dass nahezu alles hineinpasst: Handy-Flatrates, auf Autobahnen allzeit „freie Fahrt für freie Bürger“ und – ganz besonders heilig – die unternehmerische Freiheit, Profite zu erwirtschaften auf Kosten von Menschenrechten, Klima und Gesundheit.
Wie lässt sich mit „Freiheit“ eigentlich noch emanzipatorische Politik machen, zudem noch feministische?
Immer wieder übten und üben feministische Bewegungen Kritik an einem Freiheitsverständnis, das auf der Annahme beruht, Menschen seien allein und voll verantwortlich für sich. Wir brauchen einander, wir sind verbunden und abhängig, nicht Herrscher:innen über, sondern Teil der Natur und eingebunden in Sorgebeziehungen, ohne die es uns nicht gäbe. Neoliberale Ideologie leugnet das nur allzu gerne oder begrenzt es auf „die Familie“.
Wie frei können wir sein in kapitalistischen, patriarchalen, rassistischen Verhältnissen? Was brauchen wir, um frei zu wählen?
Formale Rechte sind wichtig. Sie müssen erkämpft und dann auch noch gelebt werden. Vom formalen Recht studieren zu dürfen bis zur Quote bei den Professuren war und ist ein weiter Weg zurückzulegen, der gepflastert ist mit Widerständen: von der eigenen Familie bis in die Institutionen, die erstmal bleiben wollen, wie sie sind. Gepflastert mit Vorurteilen und Gewalt, mit Regeln und Kriterien, die maßgeschneidert sind für „gesunde“, weiße Männer aus „gutem Haus“. Einmal errungen, müssen Rechte stets verteidigt werden. Ändern sich die Kräfteverhältnisse, kann das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ganz schnell zu Fall gebracht werden, wie nun in weiten Teilen der USA.
Hilfreich ist historisches Bewusstsein: Wir stehen auf den Schultern aller, die für Menschenrechte und sozialen Fortschritt gekämpft haben. Nichts gab es geschenkt, nichts ist selbstverständlich, es lohnt sich zu kämpfen.
1990 erhielt die „Lindenstraße“ Bombendrohungen, weil sie zwei Männer zeigte, die sich küssen – welch ein Skandal! Heute weht die Regenbogenfahne an Ministerien und Einkaufszentren. Sichtbarkeit ist nicht alles und es bleibt viel zu tun. Manche Erfolge stimmen auch misstrauisch: zum Beispiel, wenn Rechte und Möglichkeiten just dann gewährt werden, wenn es ohnehin gerade nützlich ist. Tatsächlich ist „Vereinbarkeit“ mal wieder Thema, dazu braucht es mehr KiTas (hört, hört!), zumindest für Berufstätige, und besser ausgestattet sollen sie auch sein – schließlich fehlt es an Fachkräften…
Freiheit braucht Gerechtigkeit. Auch das ein großes Wort, doch immerhin noch etwas sperriger. Mit ihm lässt sich nicht ganz so gut werben.
Es nicht bei Selbstbestimmung zu belassen, sondern vielmehr noch, nämlich reproduktive Gerechtigkeit zu fordern – so lautet der Vorschlag von Loretta J. Ross und anderen Schwarzen Feminist:innen, die das Konzept 1994 in den USA entwickelten. „Reproduktive Gerechtigkeit umfasst das Recht, Kinder frei von Gewalt und unter guten Lebensbedingungen großzuziehen und mit ihnen in verschiedensten Konstellationen zusammenzuleben. Reproduktive Gerechtigkeit nimmt tief verankerte Ausschlüsse und Formen der Gewalt unter die Lupe und lässt sich nicht losgelöst von kolonialer und kapitalistischer Ausbeutung, der Kriminalisierung von Migration, Institutionen der Einsperrung und behindernden Strukturen denken“, heißt es im Klappentext zum Buch „Mehr als Selbstbestimmung – Kämpfe für reproduktive Gerechtigkeit“, herausgegeben von Kitchen politics (edition assemblage 2021).
„Ich bin nicht frei, solange eine einzige Frau unfrei ist, selbst wenn ihre Fesseln sich von meinen unterscheiden“, schrieb Audre Lorde1.
Solidarität in diesem Sinne meint nicht allein Unterstützung für andere, sondern fußt auf dem Bewusstsein, dass meine/unsere Kämpfe und die der anderen voneinander nicht zu trennen sind. Auf einem Mitleid, das zugleich auch Mitleid mit sich selbst ist, lässt sich besser bauen, sagt Brecht.
In dieser Ausgabe setzt sich Annegret Kunde mit dem Verhältnis von „ich“ und „wir“ auseinander: Die anderen machen unsere Freiheit erst möglich und setzen ihr zugleich Grenzen. Sie fragt danach, wann Solidarität zur Vereinnahmung wird. Zudem hat sie sich auf die Suche nach feministischer Freiheitssehnsucht gemacht, in der Geschichte und auch andernorts in der Welt.
Isolde Aigner schreibt in der Rubrik „Krieg und Frieden“ über die wohl fundamentalste Freiheit überhaupt: das Recht zu atmen. Ein Recht, für das People of Color und Schwarze Feminist:innen immer noch kämpfen – in Zeiten von Corona erst recht.
Gabriele Bischoff erzählt von der eigenen Biografie und einem denkwürdigen Theaterbesuch. Der lässt sie erkennen: Die Freiheit und der berufliche Aufstieg (der bundesdeutschen Arbeiter:innenklasse) in den 70er und 80er Jahren haben einen Preis, den andere bitter bezahlt haben.
Melanie Stitz sprach mit Patricia Saif, die in der Kommune Niederkaufungen lebt, über Freiheitsgewinne, Auszeiten und gemeinsame Ökonomie. Die Möglichkeit, sich als Mensch allseitig frei zu entwickeln, wird blockiert von herrschenden Arbeitsteilungen und Zuständigkeiten.
Eine radikale Politik um Zeit ist von Nöten, argumentiert Frigga Haug, und schlägt die 4-in-1-Perspektive vor – als Instrument der Kritik, Utopie und Kompass für Politik. Melanie Stitz stellt das Konzept vor – ein Herzensthema und Lebensprojekt von Frigga Haug, die am 28. November 85 Jahre alt wird.
Ganz herzlich gratulieren wir ihr damit also auch zum Geburtstag:
Liebe Frigga, Danke für dein unermüdliches Schreiben, Forschen und lernendes Lehren, den Widersprüchen stets auf der Spur, und dafür, dass du uns auch als aufmerksame Leserin schon so lange begleitest.
1 Audre Lorde: Sister Outsider. Essays. Übersetzt aus dem Englischen von Eva Bonné und Marion Kraft. Mitarbeit: Nikita Dhawan. Carl Hanser Verlag, München 2021.