Zukunft
„Stellt sicher, dass ihr ein Teil davon wart“
von Melanie Stitz
(aus WIR FRAUEN Heft 4/2023)
Zukunft ist etwas, das alle Menschen ständig erzeugen, und alles, was wir uns vorstellen können, schreibt Florence Gaub in ihrem Buch „Zukunft. Eine Bedienungsanleitung“.
Das Mögliche, das Wahrscheinliche, das Plausible und sogar das Unmögliche – all das sind Versionen der Zukunft, weshalb vielleicht zutreffender in der Mehrzahl, also von Zukünften zu sprechen wäre. Eingang in unser Denken habe das Konzept „Zukunft“ erst im 16. Jahrhundert gefunden, als Menschen unter dem Eindruck der vermeintlichen „Entdeckung“ Amerikas, Aufklärung und Reformation damit begannen, in Frage zu stellen, dass das, was ist, so immer schon war und sein wird. Obwohl (zumindest in unseren Breitengraden) die Lebenserwartung höher ist als jemals zuvor und unsere technischen Möglichkeiten so vielfältig sind wie noch nie, mache sich Resignation breit – laut Gaub in weiten Teilen zu Unrecht und mit schwerwiegenden Folgen, wie sich selbst erfüllenden Prophezeiungen, Zynismus und Fantasielosigkeit. „Der Trick“ bestehe unter anderem darin, „sich das Beste vorzustellen, sich auf das Schlimmste vorzubereiten und mit Überraschungen zu leben.“
„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte“, schrieb Marx: „aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“
Zukunft ist ein Möglichkeitsraum und es braucht Handlungsfähigkeit, um diesen Raum zu gestalten. Die Kritische Psychologie unterscheidet zwei Arten davon: Restriktive Handlungsfähigkeit ermöglicht uns Anpassung – wir sind in der Lage, uns einzurichten in den Verhältnissen. Verallgemeinerte Handlungsfähigkeit meint, auch die Bedingungen unseres Handelns gestalten zu können. Das gelingt nur gemeinsam mit anderen. Wo keine Hoffnung mehr ist, Einfluss zu nehmen, kommt Zukunft abhanden. Wenn Kriege und Klimawandel über uns kommen, Umkehr und Ausweg verstellt sind, dann gibt es auch keine Zukunft mehr, dann sind wir die „letzte Generation“.
„Europas Jugend sorgt sich um ihre Zukunft“: Das zeigt die erste Next-Generations-Engagement-Studie 2023. 10.000 junge Erwachsene in Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Italien und Polen wurden dazu im Auftrag der Allianz Foundation vom SINUS-Institut befragt. Klima rangiert weit oben auf der Liste, hinzukommen – wen wundert´s? – Sorgen um Demokratie, Frieden, soziale Sicherheit.
Auf individueller Ebene ist eine Mehrheit aktiv: 76 % gehen wählen, 63 % spenden Geld oder Dinge, 45 % konsumieren mit Blick auf das Klima bewusst…
Rar gesät ist jedoch gemeinsames Engagement. Auch wenn die Mehrheit Graswurzelbewegungen für wichtig erachtet, waren 70 % noch nie auf einer Demo, einem Sit-In oder in einer Bürger*innen-Initiative dabei. Es fehle ihnen an Wissen und Zeit. Je nach Land fürchten 54-69 % körperliche Angriffe, Hassreden (vor allem online) oder juristische Konsequenzen. Da nützt es wohl wenig, „Klima-Terroristen“ zum Unwort des Jahres zu küren.
Hoffnung ist kein Zustand, sondern praktisches Tun. Das Konzeptwerk Neue Ökonomie hat eine „Vision für 2048“ vorgelegt. Wie eine „Zukunft für alle“ gebaut sein könnte, gerecht, ökologisch und machbar, wird in 15 Kapiteln beschrieben – von Globaler Gerechtigkeit über Demokratie, Arbeit, Gesundheit, Wohnen und Bildung bis zu Finanzen –, immer mit Verweis darauf, was es schon gibt und wer sich dazu engagiert. Um Mitarbeit wird gebeten, denn das Morgen wird heute gemacht.
UN Women lädt dazu ein, auf ihrer Webseite das Land Equiterra zu erkunden, in dem Geschlechtergleichstellung realisiert ist: Alle Menschen fühlen sich sicher, leben Teilhabe und können sich jenseits von Zuschreibungen frei entwickeln. Es gibt sogar einen Recyclinghof für toxische Männlichkeit.
Die Zukunft sei weiblich, heißt es immer mal wieder in Feuilletons und Wirtschaftsmagazinen, der Einfluss gut ausgebildeter, leistungsfreudiger Frauen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik nehme zu. Manchmal wird zudem nahegelegt, ein irgendwie doch weiblicher Führungsstil mache Arbeitsleben, Politik und Armee humaner und somit auch noch effizienter.
Ganz anders klingt Cristina Jimenez, Co-Gründerin von United we Dream, einer Organisation migrantischer Jugendlicher in den USA, 2019 im Interview mit dem VICE-Magazin. Sie sehe mit Begeisterung überall starke Schwarze Frauen, die transformative Arbeit anführen, Machtdynamiken verändern und systemischen Rassismus wirklich in Frage stellen:
„Wenn ich darüber nachdenke, was wir sagen können, wenn wir auf diesen Moment zurückblicken, dann, dass es ein Moment war, in dem Frauen in allen Bereichen für eine multiethnische Demokratie gekämpft haben, die für uns alle funktioniert und nicht nur für einige wenige. Mein Aufruf an andere Frauen, die dies lesen: Sorgt dafür, dass ihr im Rückblick ein Teil davon wart.“
Auf den kommenden Seiten stellt Annegret Kunde Frauen vor, die diesem Gedanken gefolgt sind – eingesperrt im Gefängnis, weil sie für eine bessere Zukunft gekämpft haben. Heide Lutosch, Autorin eines wütenden Buchs über das „Kinderhaben“ (2023), hat sich kritisch mit dem Modell des »Digitalen Sozialismus« von Daniel E. Saros sowie mit dem »Commonismus«, den Simon Sutterlütti und Stefan Meretz vorschlagen, auseinandergesetzt. Sie verlangt nach einer Utopie, die konsequent feministisch und aus Perspektive der Sorgearbeit gedacht ist. Wir veröffentlichen hier– stark gekürzt – Einleitung und Fazit ihres Artikel „Wenn das Baby schreit, dann möchte man doch hingehen“.
Was hat ein süßes Hefegebäck mit zukunftstauglichem Wirtschaften zu tun? Gabriele Bischoff erklärt, was die Oxford-Professorin Kate Raworth meint, wenn sie für eine Donut-Ökonomie wirbt.
Welche Weltsicht hat uns zu unserer gegenwärtigen Gesellschaft geführt? Der afrikanische Futurismus ist eine Kunst- und Denkrichtung, die afrikanische Kultur, Geschichte, Mythologie und Erfahrungen mit Technologie, Fiktion, Schwarzer Befreiung und Utopien sozialer Gerechtigkeit verbindet, um alternative Zukunftsvisionen zu entwickeln. Damit stellt er westliche Denktraditionen und Vorstellungen von Zukunft und Zeit in Frage. In ihrem Beitrag betont Minna Salami, wie gleichermaßen fruchtbar und notwendig es sei, afrikanischen Feminismus und Futurismus zusammenzubringen, um radikal und leidenschaftlich eine zukünftige, gleichberechtigte Gesellschaft zu entwerfen und systemische Veränderungen zu bewirken.
Es gibt so viele wunderbare feministische Utopien, zu schön, um nicht wahr zu sein. Gabriele Bischoff erinnert an „Das Buch von der Stadt der Frauen“, das Christine de Pizan um 1405 verfasst hat.