Wenn die Care-Ketten reißen…
von Tina Berntsen
(aus WIR FRAUEN Heft 4/2020, Schwerpunkt: Humor)
„Es ist eine Katastrophensituation. Aber der normale Alltag ist schon eine Katastrophe. Pflege- und Gesundheitsdienstleistungen sind heute Waren, aus denen Gewinne gezogen werden.“
Barbara Thiessen, Professorin für Gendersensible Soziale Arbeit an der Hochschule Landshut und Leiterin des Instituts Sozialer Wandel und Kohäsionsforschung
Als sich das Corona-Virus im Frühjahr weltweit ausbreitete, waren für kurze Zeit globale Liefer- und Versorgungsketten unterbrochen. Dass globale Sorgeketten auch ohne eine Pandemie zusammenbrechen, scheint jedoch nur eine Frage der Zeit. Pflegenotstand herrscht nicht nur in Deutschland. Längst gibt es einen weltweiten Wettlauf: „Der gesamte globale Norden sucht im globalen Süden nach Care-Arbeitskräften“, konstatiert Barbara Thiessen im ZEIT Online-Interview (25.03.2020).
Um das von den Vereinten Nationen vereinbarte Nachhaltigkeitsziel ‚Gesundheit für alle‘ bis 2030 zu erreichen, müssen mind. sechs Millionen neue Pflegearbeitsplätze geschaffen werden. „Wohlhabendere Länder bilden nicht genug Pfleger*innen aus und stellen sie aus ‚weniger glücklichen‘ Ländern zu höheren Löhnen ein, als dies in ihren Heimatländern möglich ist“, so Mary Watkins, stellvertretende Vorsitzende der Kampagne „Nursing Now“. Schon jetzt fehlen laut Bericht der Weltgesundheitsorganisation die meisten Pflegekräfte, schätzungsweise 5,3 Millionen (89% des Gesamtdefizits), in Ländern mit geringem und niedrigem mittlerem Einkommen – insbes. in Afrika, Südostasien, im östlichen Mittelmeerraum und Lateinamerika. Circa 20 % der Pflegekräfte müssen derzeit die Hälfte der Weltbevölkerung versorgen.
Ungeachtet dessen war das Gesundheitsministerium auf Werbetour auf den Philippinen, in Mexiko und im Kosovo. Die Bundesregierung hält die Rekrutierung von ausländischen Pflegekräften für unverzichtbar. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren 2019 durchschnittlich 39.600 Stellen nicht besetzt. Die verstärkte Anwerbepolitik ist „als systemstabilisierender Lösungsversuch des Pflegenotstandes lesbar, welcher radikale Umwälzungen der Reproduktionsarbeit verhindern und die Krise zeitlich in die Zukunft verschieben soll“, so Jan Kordes im PROKLA–Schwerpunktheft „Krisen der Reproduktion“.
Das 2020 in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz erweitert den Arbeitsmarktzugang für Fachkräfte aus Staaten außerhalb der Europäischen Union. Schon vor einem Jahr wurde die Deutsche Fachkräfteagentur für Gesundheits- und Pflegeberufe (DeFa) gegründet. Diese soll sich um Anträge für Visa, Berufsanerkennung und Arbeitserlaubnis kümmern, damit ausländische Pflegefachkräfte binnen sechs Monaten in Deutschland arbeiten können. Die ersten beiden Kooperationsländer der DeFA sind die Philippinen und Mexiko. Diese und osteuropäische Staaten wie der Kosovo, Bosnien und Herzegowina und die Ukraine gehören zu den Ländern, die – zumindest nach Einschätzung der Bundesregierung – einen Überschuss an Fachkräften mit ähnlichem Ausbildungsstandard und „kultureller Nähe“ zu Deutschland haben. Ein Ziel sei, jungen Menschen eine Perspektive zu geben. Natürlich zuerst den bereits gut Ausgebildeten: Das sei „genau die Migration, die wir wollen: Fachkräfte, die bei uns mitanpacken und die mithelfen, und nicht Migration in die Sozialhilfe oder die sozialen Sicherungssysteme“, so Gesundheitsminister Jens Spahn.
Das klingt mehr als zynisch für ein Land, in dem Pflegekräfte aus ihrem Beruf aussteigen, weil sie die Arbeitsbedingungen nicht mehr verantworten oder gar aushalten können; für ein Land, dass Geflüchtete in menschenunwürdigen Lagern und an den Außengrenzen festhalten lässt oder nach Jahren in Deutschland noch abschiebt.
Die Gestaltung der Care-Migration erinnert an koloniale Verhältnisse: Auf dem weltweiten Arbeitsmarktbasar werden die besten Fachkräfte ausgesucht, um den hausgemachten Pflegenotstand zu lindern. Bereits seit 2013 vermittelt das Projekt „Triple Win“, das gemeinsam von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit und der Bundesagentur für Arbeit durchgeführt wird, Pflegerinnen aus dem Ausland – darunter Serbien, Bosnien und Herzegowina, Philippinen und Tunesien. Dass dabei alle – die Migrantinnen, Herkunftsländer und Deutschland – gewinnen, wie es der Projektname suggeriert, darf nicht nur angesichts des WHO-Berichts bezweifelt werden. Während Deutschland der WHO-Gesundheitsstatistik zufolge rund 132 Pflegekräfte pro 10.000 Einwohner*innen aufweist, sieht das in den Herkunftsländern anders aus: In Serbien (60,9) und den Philippinen (49,4) sind es nicht mal halb so viele und deutlich weniger z.B. in Tunesien (25,1), Mexiko (24) und Vietnam (14,5).
Trotzdem sieht die Bundesregierung keine negativen Effekte des Projekts. „Viele Gesundheitsfachkräfte finden in den Herkunftsländern keinen Arbeitsplatz und suchen nach Arbeitsmöglichkeiten im Ausland, unter anderem in Deutschland. Die Herkunftsländer profitieren beispielsweise von der Entlastung ihres Arbeitsmarktes, von den Rücküberweisungen der rekrutierten Fachkräfte an Familienangehörige und vom Wissenstransfer bei zirkulärer Migration“, so die Antwort auf eine entsprechende Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE im Januar 2020. Einen Monat später kündigte Serbien die Kooperation mit „Triple Win“ auf. Rumänien sah sich im April genötigt, ein Ausreiseverbot für medizinisches Fachpersonal und Seniorenbetreuer*innen zu verhängen. Doch nicht nur Serbien und Rumänien leiden seit Jahren unter dem Braindrain, der Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften von Ost nach West. Es ist eine ganze Vermittlungsindustrie entstanden, von der auch private Agenturen profitieren.
„Ohne die transnationalen Machtverhältnisse und Dependenzen kritisch zu beleuchten, wird es kein nachhaltiges Pflege-Regime in Europa geben“, so Eszter Kováts, Doktorandin der Politikwissenschaft an der Universität ELTE Budapest.
Wissentlich von der Politik in Kauf genommen, ist im Bereich der häuslichen Pflege ein unregulierter Arbeitsmarkt entstanden. In den unsichtbaren Arbeitsverhältnissen im Privathaushalt stehen Care-Migrantinnen in ausbeuterischer Beschäftigung – zwischen rechtlicher Grauzone, Schwarzarbeit und sogar Menschenhandel. Nach Schätzungen des Verbands für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) werden in mind. 300.000 deutschen Haushalten Menschen von Care-Migrantinnen betreut: überwiegend von Frauen (ca. 90 %) aus osteuropäischen EU-Ländern (fast die Hälfte kommt aus Polen), zunehmend auch aus Drittländern. Über die genaue Zahl der 24-Stunden-Betreuerinnen gibt es keine Daten, Schätzungen reichen bis zu einer halben Million. Circa 90% der Arbeitsverhältnisse sind irregulär, oft ohne soziale Absicherung, Arbeits- und Rechtsschutz.
„Wenn prekäre Verhältnisse instrumentalisiert werden, so entpuppt sich Freizügigkeit als bloßes romantisches Klischee“, fasst es treffend Vladimir Bogoeski, Doktorand an der Hertie School of Governance und der Humboldt Universität Berlin und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hebräischen Universität Jerusalem, zusammen. Er fordert: „Die kommerzialisierte und utilitaristische Betrachtung von Mobilität, Bürgerrechten und Arbeitnehmerschutz muss überwunden werden, nicht nur in der Pandemie, sondern generell.“
Eine echte Care-Revolution kann nur zusammen mit migrantischen Kämpfen gelingen.
World Health Organization (WHO):
State of the world’s nursing 2020: investing in education, jobs and leadership.
www.who.int/publications/i/item/9789240003279
Eszter Kováts:
Pandemie // Ost-West-Ungleichheiten in westeuropäischen
Pflegeregimes, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 09.10.2020.
www.gender-blog.de/beitrag/pandemie-ostwest-ungleichheiten
Respect Berlin:
Selbstorganisation von Migrantinnen in der bezahlten Hausarbeit.
www.respectberlin.org
DGB-Projekt „Faire Mobilität“
www.faire-mobilitaet.de