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Herbst 3/2024

Unmenschliche Grenzen – High-Tech im Einsatz gegen Flüchtende und Migrant:innen

von Annegret Kunde

(aus WIR FRAUEN Heft 2/2024: „Grenzen“)

Mann muss keine Mauer bauen, um eine Grenze zu errichten. Und doch geschieht es seit Jahrhunderten. Vom Hadrianswall des römischen Reichs im zweiten Jahrhundert n. Chr., über die während der Ming-Dynastie (1368–1644) erbaute Chinesische Mauer und die 1961 errichtete Grenze der DDR bis hin zur Mauer an der US-Südgrenze, die Donald Trump während seiner Amtszeit ausbauen wollte. An dieser Grenze starben von 1998 bis 2016 laut Grenzbehörde 6.951 Menschen, die versuchten, in die USA einzuwandern.

Die tödlichste Grenze der Welt ist allerdings keine Mauer und sie zieht sich um Europa. „Engmaschiger, messerscharfer Stacheldraht, Radarüberwachung, Sperrzonen, Satellitenaufklärung, Kriegsschiffe, Polizei- und Grenzschutztruppen schotten unseren Kontinent ab. Diese Grenzschutzpolitik zwingt Schutzsuchende auf lebensgefährliche Fluchtrouten. Und sie nimmt in Kauf, dass jährlich tausende Menschen an den EU-Außengrenzen sterben“, prangern die Hilfsorganisationen Diakonie und Brot für die Welt an.

Dabei wird an den Grenzen zunehmend auf modernste Technik gesetzt. Dies ist ein lukratives Geschäft für einen ganzen Industriezweig und birgt große Risiken für Migrant:innen und Flüchtende.

„Rassismus, Technologie und Grenzen bilden eine grausame Schnittmenge. Von unbemannten Drohnen, die Menschen daran hindern sollen, europäische Küsten zu erreichen, über Lügendetektoren mit künstlicher Intelligenz an verschiedenen Flughäfen weltweit bis hin zu Roboterhunden, die an der Grenze zwischen den USA und Mexiko patrouillieren, geraten Menschen auf der Flucht ins Fadenkreuz einer unregulierten und schädlichen Reihe von Technologien“, analysiert Petra Molnar, Juristin und Anthropologin an der York University in einer Studie von 2023.

„In Flüchtlingslagern und bei humanitären Notsituationen wird auch zunehmend auf biometrische Verfahren zurückgegriffen, d. h. auf die automatische Erkennung von Personen anhand ihrer biologischen und verhaltensbezogenen Merkmale. Die Biometrie kann Fingerabdruckdaten, Netzhautscans und Gesichtserkennung umfassen, aber auch weniger bekannte Methoden wie die Erkennung von Venen- und Blutgefäßmustern, der Ohrform und sogar des Gangs einer Person“, erläutert Molnar weiter.

„In Griechenland werden beispielsweise für Milliarden von Euro fünf neue Camps mit algorithmen-gesteuerten Überwachungssystemen zur Bewegungserkennung errichtet. Auf Samos und Kos wurden zwei dieser Camps bereits eröffnet. Und trotz des vielen Gelds für Überwachungstechnologien gibt es im neuen Camp auf Samos kein fließendes Wasser, die Lebensmittelversorgung ist unzureichend und die Menschen müssen dort unter schrecklichen Bedingungen leben.“

Sowohl Regierungen als auch Organisationen der Vereinten Nationen entwickeln und nutzen neue digitale Technologien bei Grenzkontrollen und in Einwanderungsbehörden.

„Auf diese Weise setzen sie Flüchtende, Migrant:innen, Staatenlose und andere Personen Menschenrechtsverletzungen aus und sammeln große Datenmengen von ihnen unter ausbeuterischen Bedingungen, die diesen Gruppen ihre grundlegende menschliche Handlungsfähigkeit und Würde nehmen“, kritisierte E. Tendayi Achiume bereits 2020 als Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für Rassismus, Rassendiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und damit zusammenhängender Intoleranz. Dabei werden zunehmend maschinelles Lernen, automatisierte algorithmische Entscheidungsfindungssysteme und ähnliche digitale Technologien eingesetzt.

„Diese Technologien werden in Ausweisdokumente, Gesichtserkennungssysteme, Bodensensoren, Videoüberwachungsdrohnen, biometrische Datenbanken, Asylentscheidungsverfahren und viele andere Aspekte der Grenz- und Einwanderungsdurchsetzung integriert. […] Der Einsatz militärischer oder quasimilitärischer autonomer Technologie verstärkt den Zusammenhang zwischen Einwanderung, nationaler Sicherheit und der zunehmenden Kriminalisierung von Migration“, argumentiert E. Tendayi Achiume.

Amnesty International kritisiert in einem Bericht im Februar den Einsatz solcher Technik: „Ein von der EU finanziertes automatisches Grenzkontrollsystem namens iBorderCtrl wurde in Ungarn, Griechenland und Lettland getestet. Im Rahmen des Projekts wurde ein ‚Lügendetektor‘ mit künstlicher Intelligenz eingesetzt, der Personen, die die Grenze überqueren wollen, befragt und mithilfe von Technologien zur Gesichts- und Emotionserkennung kleinste Details ihrer Mimik auswertet. Reisende, die das System als ehrlich einstuft, erhalten einen Code, mit dem sie die Grenze passieren können.“

Auch (Urlaubs-)Reisende werden an Flughäfen zunehmend mit moderner High-Tech kontrolliert. In den USA investieren Fluggesellschaften und die für Luftsicherheit zuständigen Regierungsbehörden vermehrt in Gesichtserkennungstechnologie.

Bis 2026 sollen alle internationalen US-Flughäfen mit der Technologie ausgestattet sein. Die biometrische Einreisekontrolle ist für ausländische Staatsangehörige verpflichtend. Erfasste Daten von US-Amerikaner:innen werden innerhalb von 12 Stunden gelöscht. Fotos ausländischer Staatsangehöriger werden hingegen bis zu 75 Jahre lang gespeichert, berichtete im Februar die New York Times.

Und auch international verbreitet sich die Technik: 70 Prozent der Fluggesellschaften weltweit planen bis 2026 eine Form der biometrischen Identifizierung einzusetzen, und 90 Prozent der Flughäfen investieren derzeit in diese Technologie, wie eine aktuelle Umfrage der Genossenschaft SITA ergab.

Am Frankfurter Flughafen kommt Gesichtserkennungstechnologie zum Einchecken bereits zum Einsatz. So kann der Check-in zwar beschleunigt werden, birgt aber laut Kritiker:innen hohes Missbrauchspotential. Dies reicht von uneingeschränkter Überwachung bis zu Diskriminierung durch eine schlechtere Gesichtserkennung bei nicht-weißen Personen, die eine falsche Zuordnung und zusätzliche Kontrollen nach sich ziehen kann.

Zudem trägt die Technologie zur Normierung bei, die sowohl rassistisch als auch trans-exklusiv ist, kritisieren IT-Expert:innen Scheuerman, Pape und Hanna in einer Studie von 2021. Die Technik basiere auf „einer festen Geschlechterbinarität und erhebt das weiße Gesicht zum ultimativen Modell der Geschlechterdifferenz.“

Sie zeigen auf, wie sich imperialistische Ideologien in automatisierten Gesichtsanalysetechnologien widerspiegeln. Gesichtserkennungstechnologie schneidet bei transgender Personen durchweg schlechter ab und ist generell nicht in der Lage, nicht-binäre Geschlechter zu klassifizieren, zeigen ihre Untersuchungen.

Lena Rohrbach, Expertin für Menschenrechte bei Amnesty International in Deutschland, fordert mehr Kontrolle und rechtlichen Schutz, damit neue Technologien nicht zu weiteren Menschenrechtsverletzungen führen. Auch der Eingriff in die Privatsphäre mit Durchsuchungen von Handys und massenhaften Überwachung von Bewegung von Menschen müsse rechtlich eingeschränkt werden.

Verschiedene Studien zeigen, dass der Einsatz von Grenztechnologien die Zahl der Toten beispielsweise an der Grenze zwischen den USA und Mexiko noch erhöht hat. Die Technologie wird immer mehr zur Abwehr eingesetzt, unter der Schutzsuchende weltweit leiden.