Kairo 678
Ein Film von Mohamed Diab
Tag für Tag nimmt Fayza die Buslinie „678“, um an ihren Arbeitsplatz in einer städtischen Behörde zu gelangen, und jedes Mal ist es das Gleiche: Irgendein Mann drückt sich im überfüllten Bus an sie, begrabscht und bedrängt sie in dem Gewühle. Dem versucht sie auszuweichen, steigt früher aus und kommt wieder einmal zu spät zur Arbeit. Das wiederum hat eine empfindliche Lohnkürzung zur Folge. Fayza ist empört und kann doch mit niemandem darüber sprechen, erst recht nicht mit ihrem Mann, der zunehmend auf die Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten pocht.
Als Fayza im Fernsehen einen Werbespot über Selbstverteidigung für Frauen sieht, nimmt sie Kontakt zu dieser Gruppe auf, die von Seba geleitet wird, einer Frau aus gut situierten Verhältnissen, die ein Jahr zuvor selbst Opfer einer Vergewaltigung war. Ihr Kurs ist gut besucht, doch die drei Fragen, die jeder Teilnehmerin am Anfang vorgelegt werden – Bist du belästigt worden? Wie oft? Wie hast du reagiert? –, beantworten alle, so auch Fayza, mit einem „Nein“. Sexuelle Belästigung ist ein Tabuthema in der ägyptischen Gesellschaft. Sie geht ihren eigenen Weg der Rache, und so kommt es, dass immer wieder in der Buslinie 678 Männer, ins Gemächt getroffen, sich schreiend am Boden wälzen.
Die dritte Frau in diesem aktuellen Triptychon aus dem Land des „arabischen Frühlings“ ist Nelly, eine Freizeit-Kabarettistin, die noch nicht ihr Thema gefunden hat. Den Rat ihres erfolgreichen Freundes, sich auf der Bühne über andere Frauen lustig zu machen, möchte sie auf keinen Fall befolgen. Eines Tages wird sie auf dem Heimweg aus einem Auto heraus sexuell belästigt und mitgeschleift, ihre Mutter sieht es vom Balkon und die beiden Frauen stellen den Täter. Von einer Anzeige jedoch rät ihr die Familie ab, man fürchtet um den guten Ruf.
Diese drei unterschiedlichen Frauen, die das Thema sexuelle Belästigung verbindet, treffen aufeinander. Ihre Geschichten werden dramatisch miteinander verwoben, Männer kommen ins Spiel, nicht nur Freunde und Ehemänner, sondern auch ein Detektiv, der die Messerattacken im Bus der Linie 678 auf unkonventionelle Weise untersucht. Er blickt durch von Anfang an, die verletzten Männer geben zwar nicht zu, Frauen belästigt zu haben, doch eine Zitrone in der Hosentasche ist ihm Beweis genug. Das Vorgehen ist bekannt: Zunächst wird eine Zitrone an die Frau gedrückt. Sie ist unfähig, in der Enge und der Öffentlichkeit des Busses zu reagieren, also macht er weiter.
Die drei Frauen finden sich nicht ab mit der ihnen zugedachten Rolle. Nelly hat ihr Thema auf der Bühne gefunden, indem sie sehr souverän einem sprachlosen Publikum berichtet, was ihr passiert ist. Seba verlangt die Scheidung von ihrem Mann, der sie in ihrer schwersten Zeit nach der Vergewaltigung allein gelassen hat, und Fayza kämpft für den Schulverbleib ihrer beiden Kinder, ihren Mann braucht sie dazu nicht. Ein hoffnungsvoller Schluss für einen engagierten Film.
Der 34-jährige Drehbuchautor und Regisseur Mohamed Diab ergreift in seinem mehrfach ausgezeichneten Spielfilmdebüt (Preise u. a. bei den Internationalen Filmfestivals in Dubai und Chicago) Partei für die Frauen seines Landes, die auch für ihre Rechte auf die Straße gehen, die gegen das tabuisierte Thema sexuelle Übergriffe in Ehe und Öffentlichkeit revoltieren. Diab gibt einen differenzierten Einblick in die unterschiedlichen sozialen Schichten der Megacity und daraus resultierender Interessenlagen. Fayza, die radikalste der drei Frauen, wirft der wohlhabenden Seba vor, dass die sich nicht vorstellen kann, was es heißt, nicht mal das Schulgeld bezahlen zu können. Nelly, die jüngste der drei, widersetzt sich ihrer Familie und ist die erste Frau, die Anklage erhebt wegen sexueller Übergriffe, ein Beispiel für couragiertes Handeln.
„Kairo 678“ gibt Zeugnis von den Befindlichkeiten einer sich verändernden, gleichwohl zerrissenen Gesellschaft, in der Männer in herkömmlichen Rollen verharren, bestärkt von konventionell denkenden Müttern und Ehefrauen. Mohamed Diab fand für sein Thema eine adäquate filmische Form, hat wie ein Puzzle – für die westlichen Zuschauer nicht immer gleich verständlich – Einzelschicksale zusammengefügt, ohne jedoch den Faden zu verlieren, erzählt geradlinig, schnörkellos und sehr direkt von Frauen vor dem Hintergrund der revolutionären Ereignisse im Kairo des Jahres 2011.
Die ägyptischen Frauen haben mit Vorurteilen und Beurteilungen zu kämpfen, die auch hierzulande nicht unbekannt sind. Ein Blick zurück auf die Titel der Frauenfilme der siebziger Jahre, auf die Anfänge der Neuen Frauenbewegung zeigt: Die Befreiung der Frau von der Willkür des Mannes ist Teil der Revolution, Teil der Demokratiebewegung.
Der Film „Kairo 678“ (Arsenal Filmverleih) hat am 8. März 2012 seinen bundesweiten Kinostart, ein – vielleicht zufälliges – Signal zum Internationalen Frauentag.
Gudrun Lukasz-Aden + Christel Strobel