„In den Schützengräben des Ersten Weltkriegs nahm der Nationalsozialismus seinen Anfang“
Ein Interview mit der Historikerin Anke Hoffstadt von Melanie Stitz
Inwiefern hat der 1. Weltkrieg unser Denken und unseren Alltag verändert und bis heute geprägt?
Der 1. Weltkrieg wird heute vor allem als technische Verwandlungszone wahrgenommen. Und tatsächlich: Im Krieg von 1914 bis 1918 wurden Telefon, Teebeutel und Armbanduhr erfunden oder weiterentwickelt. Harmlose Dinge. Aber zu den „Errungenschaften“, die wir vom 1. Weltkrieg geerbt haben, gehören auch Panzer, Minen oder Jagdflugzeuge. In Flandern wurde im April 1915 erstmals Giftgas eingesetzt. Zugleich gilt der 1. Weltkrieg als der erste industrialisierte Krieg, die Rüstungsindustrie nahm völlig neue Ausmaße an. Krupp erfand die Kanone „Dicke Bertha“ und die ersten Zahnprothesen aus Stahl und machte so doppelten Gewinn.
Häufig wird auch vom ersten „totalen Krieg“ gesprochen. Zum ersten Mal trafen Massenheere aufeinander. Von 1914 bis 1918 starben 10 Millionen Soldaten an der Front, es gab 20 Millionen Verwundete oder Verschollene. Zuhause prägten nach dem Krieg Kriegsversehrte das Straßenbild, mit ihren zerschlagenen Gesichtern und amputierten Gliedmaßen. Es entwickelte sich die moderne Prothetik – ein weiterer bitterer „Fortschritt“ im Gefolge des Krieges. Der 1. Weltkrieg war auch die Geburtsstunde der „Kriegsneurosen“. Heute ist nicht mehr die Rede von „Kriegszitterern“, sondern von „Posttraumatischen Belastungsstörungen“.
Dann sind da auch noch die ideologischen Aspekte, vor allem die Feindbilder, die aufgegriffen und verfestigt wurden. Viele für Frankreich oder Großbritannien kämpfende Soldaten kamen aus deren Kolonien. Auf den Schlachtfeldern trafen Männer aus dem Senegal oder aus Indien mit Soldaten aus dem Deutschen Reich aufeinander. Vom Kolonialismus geprägte, rassistische Feindbilder haben bis heute Spuren hinterlassen. Ein weiterer Aspekt ist der Antisemitismus, der im 1. Weltkrieg massiv katalysiert wurde. 1916 initiierte die deutsche Heeresleitung die sogenannte „Judenzählung“. Sie sollte den Beweis erbringen, dass jüdische Kriegsteilnehmer verhältnismäßig weniger häufig an der Front waren als ihre nicht-jüdischen „Kameraden“. Sie zeigte zwar nicht das gewünschte Ergebnis, aber der Mythos war in der Welt und nährte das Bild vom jüdischen „Drückeberger“ oder „Kriegsgewinnler“, der fernab der Front Geschäfte machte, während andere für das „Vaterland“ fielen. Dieser Mythos und auch die Selbststilisierung, am „Opfergang“ teilgenommen zu haben, sind nach 1918 vor allem bei den Nationalkonservativen und später im NS-Lager wiederzufinden. Nicht zuletzt kam noch die von Reichspräsident Hindenburg in die Welt gesetzte Legende vom sogenannten „Dolchstoß“ hinzu, wegen dem das Deutsche Reich den Krieg verloren habe. Der Hass richtete sich gegen die „Feinde in den eigenen Reihen“, gegen Sozialdemokraten und Kommunisten. So wurde das Feindbild vom „jüdischen Bolschewisten“ im 1. Weltkrieg geboren und ist bis weit in den Antikommunismus der Gegenwart hinein aktiv. Viele HistorikerInnen sind sich heute einig, dass der Nationalsozialismus in den Schützengräben des 1. Weltkriegs seinen Anfang nahm.
Auf der anderen Seite haben wir viele Verwandlungen im Alltag an der sogenannten „Heimatfront“: Ein Beispiel sind die Geschlechterrollen. Fotos von „Hungerpolonaisen“ zeigen Frauen und Kinder, die stundenlang vor Läden anstanden für eine kleine Ration Lebensmittel. Viele Arbeiterinnen schufteten in der Rüstungsindustrie. Alle Belastung im ArbeiterInnen-Haushalt lag auf den Schultern der Frauen. Mit dem einher ging aber auch eine Eroberung von Berufsfeldern, die ihnen vorher verwehrt wurden. Frauen waren plötzlich Schaffnerinnen oder Postbotinnen. Und auch wenn sich diese Veränderung langfristig nicht festigte, weil die Männer zurückkehrten und in „ihre“ Berufe zurückdrängten: Erstmals gab es diese „Es ist möglich“-Situation, das politisierte ungemein. Heute wird oft gesagt, dass die Hungerunruhen, das Plündern von Lebensmittelgeschäften, als deren AkteurInnen vor allem Frauen, Kinder und Jugendliche gelten, unpolitische Lebensmittel-Aufstände gewesen seien. Tatsächlich ist das vielerorts anders gewesen. In Wuppertal etwa wurden auch Geschäfte ausgeräumt, dann aber sind die plündernden Frauen, Jugendlichen und Soldaten auf Heimaturlaub auch in die reicheren Bezirke der Stadt gegangen und haben die Fenster der Villen eingeschmissen.
Dieses Selbstbewusstsein der Frauen war nicht wieder zurückzudrehen. Die Frauenbewegung bekam Luft unter die Flügel. Zu den Kämpfen gegen den §218 ging es nun intensiver auch um politische Partizipation. Das „Frauenwahlrecht“ war nach dem Krieg ein Schritt dahin. Clara Zetkin und ihre Positionen waren enorm wichtig.
Du studierst, wie und von wem im „Geschichtsjahr 2014“ an den 1. Weltkrieg erinnert wird. Welche Sichtweisen dominieren?
2014 gibt es in vielen Städten Veranstaltungen und lokalhistorische Projekte, oft Ausstellungen von Dachbodenfunden – das heißt, Menschen werden aufgerufen, in Kellern und auf Speichern nach historischem Material zu suchen. Solche Projekte sind wichtig. Sie befördern das Bewusstsein dafür, dass unsere Gegenwart nicht vom Himmel gefallen ist. Gute Arbeit leisten transnationale Initiativen wie die Plattform www.europeana1914-1918.eu, eine Datenbank, auf der NutzerInnen Fotos und Bilder von Dokumenten und Gegenständen, von der Feldpostkarte bis zum Kriegskochbuch, hochladen können. Diese „doing history“-Ansätze und die Recherche lokaler Bezüge halte ich für sehr produktiv.
Die großen Akteure, die Bundeszentrale oder die Landeszentralen für politische Bildung, das Außenministerium, viele Medien oder die RepräsentantInnen ehemals kriegsbeteiligter Nationen sprechen dagegen vor allem von „Europa“ und dem „europäischen Friedensprojekt“, wenn sie an den Krieg vor 100 Jahren erinnern. Hier wird immer wieder betont, dass es notwendig sei, einen europäischen Erinnerungsraum zu haben.
Welche Interessen prägen solcherart Erinnerungspolitik?
Ich denke, ein Lob des europäischen Friedensprojektes und der europäischen Integration dient auch als Legitimationsfolie. Da bin ich skeptisch, denn hier werden zwei zentrale Dinge vergessen: Dieses Europa ist nicht friedlich. Weder nach innen, noch nach außen. Die Austeritätspolitik der Troika gegen die südeuropäischen Länder ist ein aggressives Projekt. Außerdem haben wir das europäische Grenzregime, mit Frontex im Einsatz gegen Menschen, die übers Mittelmeer flüchten – zumeist vor Kriegen! Daher ist so eine Erinnerungskultur Augenwischerei.
„Die Schlafwandler“ – das ist ein weiteres wichtiges Stichwort, das die Debatte prägt, angestoßen durch den gleichnamigen Bestseller von Christopher Clark von 2012. In der aktuellen Diskussion um die Verantwortungen für den „Ausbruch“ des 1. Weltkrieges kommt im Buch unterm Strich heraus, dass es sich um eine Art naturgesetzmäßige Katastrophe gehandelt habe. Kriege brechen eben aus – hoppla! – , alle waren unachtsam und sind in die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ hineingeschlittert. Der oft verwendete Ausdruck „Katastrophe“ steht für eine glatte Entpolitisierung der Geschichte. Fragen nach Interessenpolitik, Chauvinismus, Nationalismus, imperialistischer Konkurrenz, Kampf um Märkte und Produktionsmacht – so etwas auszusprechen hat ja kürzlich einen Bundespräsidenten das Amt gekostet –, all das fällt unter den Tisch. Alle atmen auf: „Wir“ sind jetzt doch nicht mehr Schuld am 1. Weltkrieg, zumindest nicht schuldiger als alle anderen auch.
1961 veröffentlichte Fritz Fischer das Buch „Griff nach der Weltmacht“. Er war zu dem Schluss gekommen, dass die imperialistische Weltmachtpolitik Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches ursächlich für den Kriegsbeginn von 1914 war und mitnichten alle „hineingeschlittert“ sind. In den 1950er und 1960er Jahren lag aber über einem anderen Thema ein noch größerer Bann: Über Nationalsozialismus und Shoah wollte sich die deutsche Gesellschaft in keinem Fall austauschen – auch nicht in der Geschichtswissenschaft. So erregte Fischers These von der deutschen Verantwortung für den 1. Weltkrieg riesiges Aufsehen – quasi stellvertretend für eine nicht geführte Auseinandersetzung, für das beredte Schweigen über den Nationalsozialismus. Wenn heute wieder hinter Fischers Thesen zurückgegangen und Deutschland von der Hauptschuld freigesprochen wird, dann hat das wahrscheinlich aktuelle Gründe. Deutsche PolitikerInnen können sich heute wieder hinstellen und sagen: „Wir sollten in der Ukraine intervenieren und mitspielen im Konzert mit den anderen westlichen Großmächten.“ Immer öfter wird auch eine direkte Verbindung hergestellt: „Damals haben wir geschlafwandelt, heute müssen wir wachsam sein und Verantwortung übernehmen“.
Mir kommt dazu ein Zitat von Rosa Luxemburg in den Sinn. Sie schrieb im Mai 1914, zwei Monate vor Kriegsbeginn: Es sei „eine gefährliche Illusion, dass irgendwelche diplomatischen Bündnisse Garantien des Friedens sein können. Alle Bündnisse haben nur den Zweck, irgendeinen Außenstehenden desto besser abmurksen zu können. Wenn wir Klarheit schaffen wollen, müssen wir betonen, dass keine Bündnisse der kapitalistischen Staaten imstande sind oder auch nur den Zweck haben, den Frieden zu sichern.“
Welche Arten des Erinnerns sollten wir diesem ideologischen Projekt entgegensetzen?
Unermüdlich betonen, dass der 1. Weltkrieg menschengemacht war. Er wurde getragen von einer militarisierten Gesellschaft, die eine ganz klare Interessenpolitik verfolgt hat – um Ressourcen und einen „Platz an der Sonne“, um Kolonien und wirtschaftliche Vormachtstellung. Nicht anders ist unsere Politik heute verfasst. Da liegen die Verbindungslinien zwischen 1914 und 2014.
In Kriegen geht es schlicht ums massenhafte Töten, um ungeheures Leid. Aber ich fürchte, selbst für diesen Fakt wirst Du heute keinen Konsens mehr bekommen. Es wird unsichtbar gemacht, verharmlost oder geleugnet. Soldaten, die im Zinnsarg von Auslandseinsätzen zurückkommen, werden als „Gefallene“ ausgezeichnet. Ermordete ZivilistInnen sind „Kollateralschäden“ – auch heute noch. Die Konferenz, die wir vorbereiten, heißt nicht umsonst „Geschichte wiederholt sich nicht, aber…“, anspielend auf ein Zitat, das Mark Twain in den Mund gelegt wird: „History does not reapeat, but it does rhyme“ (Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich).
Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat etwas sehr Kluges gesagt: Wenn wir etwas aus dem 1. Weltkrieg lernen wollen, dann sollten wir fragen, was davon eigentlich in unseren Köpfen geblieben ist und wie Feindbilder funktionieren. Wie funktionieren – bis heute – Nationalismus, Militarismus, Rassismus, Antisemitismus und Antikommunismus?
In einigen Workshops der Konferenz wird es auch um die Bedeutung von Männlichkeiten und Geschlechterverhältnissen gehen.
Zum anderen wird es darum gehen, die Geschichte von Frauen zu erarbeiten. Zum Beispiel fragen wir nach Handlungsspielräumen und Politisierung von Frauen an der sogenannten „Heimatfront“. Und Silke Fehlemann wird über Soldatenmütter berichten. Ihr Fokus liegt dabei auf Erzählungen, den Umgang mit Trauer und wie diese ritualisiert wurde. Romane und Ratgeberliteratur schlugen vor, wie Trauer bei einer „guten“ Frau, Mutter, Angehörigen auszusehen habe.
Sehr wichtig ist uns die Frage nach der Konstruktion von Geschlechteridentitäten. Wir werden sogenannte „Männlichkeiten“ in den Blick nehmen: Welcher Art männlicher Identitäten waren notwendig, um gewalttätiges und brutales Verhalten zu forcieren? Wie wurden sie durchgesetzt? Welche Männlichkeitskonzepte entstanden durch Kriegserfahrungen und in militärischen Männerbünden? Dabei knüpfen wir an Raewyn Connells Arbeiten zu hegemonialer Männlichkeit, Klaus Theweleits Analysen zum „soldatischen Körper“ und Sven Reichardts Forschungen zu Männerbünden an. Leider wird in der Wissenschaft noch vernachlässigt, welche Rolle weibliche Identitätskonstruktionen spielen, wenn es darum geht, Krieg und Gewalt zu ermöglichen und zu legitimieren.
Konferenz: Geschichte wiederholt sich nicht, aber…
100 Jahre Erster Weltkrieg – 100 Jahre Bezugnahmen und Deutungen in Europa
19. bis 21. September 2014 in Wuppertal
Eine Konferenz der Rosa Luxemburg Stiftung.
Im Kultur- und Kommunikationszentrum DIE BÖRSE (Freitag und Samstag) und der ehemaligen Konsumgenossenschaftszentrale „Vorwärts“ (Sonntag).