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Winter 4/2024

Die Türkei braucht keine Feministinnen – die haben sie selbst

„Nein, ich möchte wirklich keine Kundenkarte haben. Ich gehe ein halbes Jahr ins Ausland.“
„Ach, na gut, wenn das so ist. Wo geht es denn hin?“
„In die Türkei.“
„Oh.“
– Pause –
„Ist schon ok. Ich habe mir das so ausgesucht. Ich will in der Türkei studieren.“
„Hmm… ja, kann sicher auch ganz schön sein, mal so was ganz anders.“

Ganz normaler Alltagsrassismus, der rein gar nichts mit der „ungebildeten Verkäuferin“ zu tun hat. Auch an der Universität bin ich dem einen und anderen erleichterten Aufseufzen begegnet, als ich erzählte, dass ich nicht irgendwo in der Türkei studieren werde, sondern in Istanbul. „Ahhh …. Istanbul. Ja, das kann ich verstehen. Dort ist es ja viel … europäischer.“ Aber was heißt denn schon europäisch? Rumänien wohl kaum. Nein, dahinter steckt der Gedanke an das Europa der ersten Klasse. Das Europa, das so ist wie wir und nicht wie die. Die Türkei genießt in Deutschland kein besonders gutes Image. Sehen wir mal ab vom Bild eines billigen Urlaubslands mit Imbissbuden. Die Wahlergebnisse machen es nicht gerade besser. Was ist nur los mit denen? Die hier sind halt so, antworten dann die deutschen AustauschstudentInnen, die hier die größte Gruppe der Auslandsstudierenden stellen. Sie werden sich später einmal „interkulturelle Kompetenz“ in den Lebenslauf schreiben, obwohl sie nach einem Jahr Türkei gerade mal ein Bier auf Türkisch bestellen können. Die Ironie dabei fällt den wenigsten auf. Türkisch ist eine Sprache die man nicht er-, sondern verlernt, schrieb Kübra Gümüsay einmal so treffend.

Rückständig ist wohl das Wort, das viele Türkeiassoziationen auf den Punkt bringt. Gradmesser des Rückschrittes sind dann gerne die Rechte der Frauen. Wenn es um die Rechte der anderen Frauen geht, werden plötzlich alle zu Frauenrechtler_innen. Frauenunterdrückung ist nicht einfach falsch, nein, sie ist unmodern, rückständig, mittelalterlich. Entsprechend unvereinbar scheint da eine Feministin in der Türkei. Und dann noch dazu eine, die Gender Studies studiert. „Gender Studies? In Istanbul?!? Haben die das da?“ Haben sie. Die ersten Frauenforschungsinstitute, an der Marmara Üniversitesi oder der ?stanbul Üniversitesi entstanden in den 1990er Jahren. Damit müssen sich die Gründerinnen in der Türkei nicht vor der sich ausbildenden institutionalisierten Frauen- und Geschlechterforschung in Deutschland in den 1980er und 1990er Jahren verstecken – wie ich finde. Aber türkische Feministinnen passen irgendwie nicht so richtig in das deutsche (Mainstream-Medien-)Bild der Türkei. Die zahlreichen Aktivistinnen bei den Gezi-Protesten haben daran merkwürdig wenig geändert – obwohl viele dezidiert als Feministinnen laut und deutlich demonstriert haben. In den Politshows wird noch immer das Bild der unterdrückten Türkinnen (bzw. islamischen Frau per se) herbeigetalkt. Sprechen kann eben nur, wer gehört wird. Und gehört wird, wer nahe am Ohr der Mächtigen ist.

Würde mehr Wissen über die türkische Frauenbewegung in Deutschland und den anderen privilegierten EU-Ländern ankommen, und vielleicht sogar Alltagswissen werden, dann wäre es sehr viel schwerer in jeder Deutsch-Türkin ein Opfer zu sehen, das erst in die moderne deutsche Gesellschaft integriert werden muss. Wäre die türkische Frauenbewegung fester Bestandteil der Lehrpläne und des akademischen Kanons, dann wäre es schon um einiges schwieriger (wenn auch sicher nicht unmöglich), das 2002 reformierte türkische Straf- und Zivilrecht als alleinige Glanzleistung der EU darzustellen und nicht als Erfolg der Frauenbewegung zu sehen. Und es würde endlich ankommen, dass es natürlich die türkischen Feministinnen sind, die dafür Sorge trugen und tragen, dass die neue Gesetzgebung auch Rechtsalltag ist und kein zahnloser EU-Papiertiger.

„Die brauchen sicher Feministinnen“, sagte ein Freund zu mir, kurz bevor ich abflog. Es war einer dieser Sätze, die irgendwie gut und richtig klingen, aber bei denen frau einfach weiß, dass sie daneben sind, aber es reicht noch nicht, den Unmut in Worte zu fassen. Denn irgendwie wollte ich zustimmen. Ich denke an die zahlreichen Studien zur häuslichen Gewalt, in denen die Türkei schlecht abschneidet, ich denke auch an die Berichte über den Umgang der Polizei mit politischen Aktivistinnen, die erschreckend hohe Zahl von Analphabetinnen in den ländlichen Regionen, an die Versuche das Abtreibungsrecht auszuhebeln, an die sogenannten „Kinderbräute“, Jungfräulichkeitstests und Frauenmorde. Natürlich braucht die Türkei Feministinnen. Das fanden auch FEMEN, die es sich nicht haben nehmen lassen wie gewohnt halbnackt gegen Erdo?an zu protestieren. Das sind dann die Bilder, die auch der deutsche Malestream gerne ausbreitet. Schade, dass die berühmten Aktivistinnen nicht am diesjährigen 8. März mitmarschiert sind, denn sonst hätten sie die vielen, vielen (!) Frauen gesehen und gehört, die auf der Straße für ihre Rechte protestierten. In Istanbul waren bereits Wochen zuvor die Straßen mit Aufrufen besprüht. Sogar auf Schaufenstern großer Modeketten wurde das Frauenzeichen stilecht in lila gesprüht – am nächsten Morgen war es natürlich weg. Als ich am Frauentag Selime nachmittags in den Räumlichkeiten des Feministischen Kollektivs Istanbul treffe, können wir kaum fünf Minuten am Stück sprechen – die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Frauen allen Alters sitzen zusammen, malen Plakate, diskutieren, formulieren Forderungen. „Nicht jede Frau, die sich für Frauenrechte einsetzt ist automatisch eine Feministin. Die institutionalisierte Variante des Feminismus, die NGOisierung, macht uns radikalen, autonomen Feministinnen zu schaffen“, erklärt mir Selime und es kommt mir nur allzu bekannt vor. „Das gesamt System des Patriarchats, der Kapitalismus, muss angegangen werden.“ Die Atmosphäre, das geschäftige Treiben, die Energie sind mitreißend. Der Frauentag in Istanbul ist nicht das lahme, pflichtbewusste Herumgestehe, das ich aus Deutschland kenne. Die Frauen sind laut – mit Liedern und Trillerpfeifen erobern sie sich für diesen Tag die Straßen und legen den Verkehr lahm. Die Stimmung ist ansteckend kämpferisch und gut gelaunt. Unter Frauen für Frauen. Doch die Situation kippt schnell. „Wir gehen“, sagt meine Mitbewohnerin Eda entschlossen zu mir. Während ich mich von ihr durch die verwinkelten Seitenstraßen führen lasse, entdecke ich die Polizisten mit Gasmasken. Kein gutes Zeichen. „Die Polizei behandelt politische Frauen absichtlich entwürdigend. Sie wollen nicht, dass wir uns wehren. Sie wollen uns still und unsichtbar machen. Zu Hause einsperren“, erklärt mir Selime am Nachmittag. Eda und ihre Freundinnen erzählen mir von den Gezi-Protesten. Dem berauschenden Gefühl, Teil einer Weltveränderung zu sein und dem gnadenlosen Umgang der Polizei mit den Demonstrierenden. Sie erzählen mir von Panikattacken, Tränengas, das jedes Atmen unmöglich macht und dem bitteren Gefühl sich machtlos zu fühlen. Für einen kurzen Moment sagt keine von uns etwas. „Es ist eine Männerwelt“, bringt Eda es auf den Punkt, „aber wir Frauen werden das ändern!“

Die Türkei braucht keine Feministinnen. Die haben sie selbst. Und deshalb braucht es auch keinen Nachhilfeunterricht in Sachen Frauenrecht, sondern Zusammenarbeit; kein Abfragen in Sachen Modernität, sondern Zuhören; kein Frontalunterricht in der Frauenbewegung, sondern ein offenes Ohr für die vielen Frauen und vielen Frauenbewegungen, jenseits des eurozentristischen Lehrplans; keine OberlehrerInnenattitüde, sondern Solidarität. Wir Frauen werden die Welt verändern. Als Verbündete.

Anna Schiff