Die Taube auf dem Dach
Fast vier Jahrzehnte blieb der Debütspielfilm „Die Taube auf dem Dach“ von Iris Gusner, die ihr Filmhandwerk an der berühmten Moskauer Filmhochschule WGIK gelernt hat, der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Die Geschichte dieses Films spiegelt auch ein Stück DDR-Kulturgeschichte. Iris Gusner (Szenarium, Drehbuch und Regie) porträtierte mit Linda Hinrichs, einer selbstbewussten Bauleiterin, ungeschminkt die Realität der Arbeitswelt im sozialistischen Teil Deutschlands, mit Menschen, die nicht so genormt sind wie die Plattenbauten, die sie errichten.
Die junge, attraktive Linda ist zuständig für Materialbeschaffung auf der Großbaustelle. Wenn‘s um diese Sache geht, setzt sie auch ihren weiblichen Charme ein. Aber bei der Liebe bleibt sie sachlich. Da ist einmal Daniel, ungestümer Student, der in den Ferien auf der Baustelle jobbt und seinen Visionen nachhängt: „Mich interessiert das Jahr 2000 und ihr lasst mich Sand schippen.“ Ihr gefällt seine Unangepasstheit, sie lässt sich auf die Liebe ein. Da ist aber auch noch der erfahrene Baubrigadier Hans Böwe, der sie umgarnt und ihr schließlich einen Heiratsantrag macht.
Linda wird das alles zu eng: „Meine Frau, deine Frau, du bist genau so ein Spießer wie alle anderen. Hast du mich gekauft, hast du mich bezahlt? Wer gibt dir überhaupt das Recht? Ich will mich nicht von äußeren Situationen zu Entscheidungen zwingen lassen. Ihr besauft euch, spielt den tragischen Helden …“ Diese Tragik der Männer, die oft und gern Lust und Frust in Alkohol ertränken, inszeniert Iris Gusner mit leichter Hand, ironischem Blick und Sympathie für alle ihre Protagonisten, die mit dem sozialen Wohnungsbau zu einer neuen, modernen Gesellschaft beitragen und an real existierende Grenzen stoßen, wo Sehnsüchte und Gefühle in Konflikt mit den großen Zielen geraten.
Die romantische Musik, oft von Tanzkapellen gespielt, gekoppelt mit arabischer Musik bei den Szenen, in denen Kollege Kerim aus dem Libanon ins Bild kommt, unterstreicht die Sinnlichkeit und Leichtigkeit des Films aus der Welt der Arbeit. Und das wurde dem Film zum Verhängnis. Iris Gusner wurde 1973 nach Vollendung ihres Films vorgehalten, dass sie ein verzerrtes Bild der DDR-Realität liefere und ausschließlich Menschen in der Krise zeige.
Und das, obwohl Drehbuch und Rohschnitt vom Auftraggeber, dem DEFA-Studio in Potsdam-Babelsberg, abgenommen wurden. Was war da passiert?
Chronik der Ereignisse
Im Dezember 1971, auf dem 4. Plenum des Zentralkomitees der SED, verkündet Erich Honecker, dass es „auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben“ könne. Das beträfe „sowohl die Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils“.
Da kam Iris Gusners Drehbuch gerade recht, das im Juli 1972 vom Studio angenommen wird. Im Januar 1973 erfolgt die Rohschnittabnahme. Der Film wird ohne Einschränkungen zur Weiterarbeit freigegeben. Im April 1973, während der Abnahme des fertigen Films durch die Direktion des DEFA-Studios für Spielfilme, ändert sich die Stimmung für „Die Taube auf dem Dach“. Der Film wird zunehmend kritisch beurteilt, Iris Gusner notiert in ihr Tagebuch: „Der Stil des Films ist der reine Kunstirrtum … In jeder Szene Angriffe gegen die DDR… Die Menschen alle in der Krise … Das Arbeiterbild verzerrt.“ Die Vorwürfe gipfeln in dem Satz „Iris Gusner hat der Arbeiterklasse ins Gesicht gespuckt.“
Der Film wird aber nicht verboten, sondern muss „korrigiert“ werden. Der künstlerische Rat der DEFA, unter anderem die renommierten Regisseure Konrad Wolf und Kurt Maetzig, hält zur Regisseurin, die mit ihrem Team versucht, den Film durch Schnitte zu retten. Vergeblich. Ihr Film wird in die Ecke gestellt. Offizielle Sprachregelung: Es handelt sich um ein „Experiment der Regiedebütantin Iris Gusner“.
Das Filmmaterial ging verloren, bis auf eine farbige Arbeitskopie, die der Kameramann Roland Gräf im Zuge der Restaurierung anderer Verbotsfilme im Jahre 1990 entdeckte. Da die Farbkopie nicht mehr spielbar war, wurde eine Schwarz-Weiß-Kinokopie hergestellt, die im Oktober 1990 zweimal im Kino zur Aufführung kam. Dann verloren sich erneut die Spuren des Materials.
20 Jahre brauchte es bis zur Wiederentdeckung des Films und der Filmemacherin Iris Gusner, die nach ihrem durchgefallenen Regiedebüt acht weitere Spielfilme in der DDR realisieren konnte, in denen die Selbstbestimmung der Frau eine wichtige Rolle spielte, z. B. „Alle meine Mädchen“ oder „Kaskade rückwärts“.
1989, wenige Monate vor dem Mauerfall, verließ Iris Gusner ihren Wohnort Potsdam und ging nach Köln, wo sich ihre Film-Spuren bis auf den 1993 für den NDR realisierten TV-Film „Sommerliebe“ verlieren.
Iris Gusner (Jahrgang 1941): „Das lange Pausieren liegt einfach daran, dass ich nie wieder genug Geld für einen Spielfilm zusammenbekam, vor ein paar Jahren nicht einmal für einen kleinen Dokumentarfilm – was im Sozialismus die politische Zensur war, ist heute die Schwierigkeit der Geldbeschaffung. Im Sozialismus lehnte man Projekte gern mit dem Satz ab: Das wollen unsere Zuschauer nicht sehen. Heute sagt man: Das macht keine Quote.“
Durch die Wiederentdeckung ihres Debütfilms ist Iris Gusner wieder in der Kinoszene unterwegs, begleitet ihren Film und spricht mit dem Publikum.
Die Geschichte ihres Films „Die Taube auf dem Dach“ hat Iris Gusner im Gespräch mit Helke Sander in dem Buch „Fantasie und Arbeit. Biografische Zwiesprache“ (Schüren Verlag, Marburg 2009, 19,90 €) ausführlich geschildert.
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