„Die Nahrung des Menschen ist unantastbar!“
Das Menschenrecht auf Nahrung
m Herbst 2009 – fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit – gab die UN-Welternährungsorganisation FAO bekannt, dass eine neue Schallmauer durchbrochen wurde: In nur drei Jahren ist die Zahl der Hungernden um 170 Millionen auf ca. 1,02 Milliarden angestiegen. Ein trauriges Novum in der Menschheitsgeschichte und eine quasi Bankrotterklärung der Staatengemeinschaft gegenüber den in 2000 aufgelegten ehrgeizigen „Millenium Development Goals“!
Ausgelöst wurde diese jüngste „Hungerwelle“ durch abrupte Preissteigerungen für Agrarrohstoffe auf den internationalen Märkten, verschärft durch die globale Wirtschafts- und Finanzkrise. Seit drei Jahrzehnten marginalisiert der globalisierte Weltagrarhandel vor allem jene, die das Gros der Grundnahrungsmittel produzieren, also Kleinbäuerinnen, LandarbeiterInnen, Kleinfischer, Indigene und NomadInnen. Hoch subventionierte und damit konkurrenzlos billige Nahrungsmittel aus den Überschuss produzierenden „Wachse-oder-Weiche“-Agrobetrieben der Industrieländer wurden jahrelang auf den Märkten der Entwicklungsländer abgekippt und erstickten so die heimische Produktion. Als 2007 und 2008 die Billigimporte ausblieben, konnte die Angebotslücke von den heimischen Bauern nicht mehr geschlossen werden – die neue Hunger- und Armutswelle schwappte bis in die Städte. Mit der mexikanischen „Tortillakrise“ begann es. Die Slum-BewohnerInnen in Mexiko-City protestierten im Januar 2007 gegen explodierende Maispreise – der Startschuss für Hungeraufstände in über 40 Ländern des Südens. Trauriges aktuelles Beispiel: In Haiti brannten im April 2008 Barrikaden und Autoreifen, Lebensmittelgeschäfte wurden geplündert, der Premierminister gestürzt.
Der steigende Einsatz von Agrarrohstoffen wie Soja und Mais für die Produktion von Agrotreibstoffen oder Futtermitteln, witterungsbedingte Ernteausfälle und ausufernde Spekulationen an den Warenterminbörsen schlugen sich fast unmittelbar an den Ladentheken nieder. Menschen, die vorher schon von der Hand in den Mund lebten, konnten sich nun nicht einmal mehr eine einzige Mahlzeit am Tag leisten.
Die Deregulierung und zunehmende Konzen-tration der Weltagrarmärkte, das Preisdumping des Nordens und der Verlust von Ernährungssouveranität im Süden, der Vormarsch der „Grünen Gentechnik“ und die Zunahme an Umweltschäden haben die Fähigkeit von KleinproduzentInnen, sich und eine lokale Bevölkerung zu ernähren, nachhaltig beeinträchtigt. Zwar hat die jüngste Nahrungsmittelkrise Regierungen und Öffentlichkeit alarmiert und die vernachlässigte Hungerproblematik erneut ins Bewusstsein gerufen, aber es bleibt fraglich, ob die kurzfristig ergriffenen Maßnahmen langfristig helfen. Notwendig wäre ein Paradigmenwechsel! Einen nachhaltigen Ausweg aus der Hungerproblematik kann es nicht geben, wenn wichtige Lebensbereiche ausschließlich dem ökonomischen Prinzip unterworfen sind. Dies gilt insbesondere für die Landwirtschaft und den Umgang mit natürlichen Ressourcen. Nahrung, Wasser, Land und Saatgut sind keine Ware wie jede andere. Eine angemessene Ernährung durch den Zugang zu sauberem Wasser, Land, Saatgut, Energie und/oder ein Mindesteinkommen sind nicht nur Grundbedürfnisse des Menschen, sondern ein völkerrechtlich verankertes Menschenrecht!
Die Menschenrechte sind grundgelegt in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) sowie dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt). Beide Pakte wurden von der UN-Generalversammlung 1966 verabschiedet und traten 1976 schließlich in Kraft. In der Zeit der Blockkonfrontationen kam es meist zu einer kontraproduktiven Gegenüberstellung der beiden Pakte, statt ihre wechselseitige Bedingung und gegenseitige Abhängigkeit zu beachten. Mit dem Beginn der Globalisierung in den 1990er Jahren und den deutlich negativen Auswirkungen erlangte endlich auch der Sozialpakt ein größeres Gewicht in der Menschenrechtsdiskussion. Art. 11 betont das Recht auf angemessenen Lebensstandard, das Recht auf Schutz vor Hunger, das Recht auf Nahrung und die Pflicht der Staaten zur Zusammenarbeit zum Schutze und zur Gewährleistung dieses Rechts.
In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich eine internationale Menschenrechtsbewegung herausgebildet, deren Einfluss auf die Debatte nicht unerheblich blieb. Ein Beispiel: Eine Handvoll Menschen gründete 1986 FIAN, das Food First Informations- und Aktions-Netzwerk, um für die Verwirklichung des Menschenrechts auf Nahrung zu kämpfen. Mittlerweile hat FIAN Mitglieder in über 60 Ländern auf allen fünf Kontinenten. In 18 Ländern bestehen nationale Vertretungen. Weltweit unterstützt FIAN Opfer von Verletzungen des Rechts auf Nahrung bei der Verteidigung ihrer Rechte. Bei den Vereinten Nationen hat die Organisation Beraterstatus.
Das Menschenrecht auf Nahrung als Kompass auf dem Weg in eine vom Hunger befreite Welt bedeutet also nicht, kurzfristig Nahrungsmittellieferungen aus der Überschussproduktion des Nordens in den Süden zu bringen oder einen Brunnen hier und eine Schule dort zu bauen. Dieser Kompass weist vielmehr den Weg zum politischen Einsatz für die Beachtung und Gewährleistung grundlegender Menschenrechte, zu welchen die Staaten verpflichtet sind. Menschenrechtsorganisationen wie FIAN, aber auch vermehrt „klassische Entwicklungshilfeorganisationen“ wie Brot für die Welt und Misereor, fordern das Recht auf Nahrung in den Gremien der Vereinten Nationen und in der Auseinandersetzung mit Regierungen und Behörden ein. Sie sammeln Informationen über die Situation vor Ort, recherchieren und dokumentieren Rechtsbrüche und erheben dann ihre Stimme für die, die oft nicht einmal um ihre Rechte gegenüber den Verantwortlichen wissen.
Dieser Ansatz – mit Menschenrechten gegen Hunger und Armut zu kämpfen und die Politik an ihre Pflichten zu erinnern – braucht zweifellos einen langen Atem, zeigt aber über das Prinzip des „blamings“ (Beschuldigen) einer Regierung Wirkung. Keine Regierung kann es sich langfristig leisten, in der internationalen Gemeinschaft als Rechtsbrecher zu gelten.
Sonja Vieten