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Winter 4/2024

„Die Großmütter waren viel freier als ihre Enkelinnen heute“

Marlene Kienberger sprach mit der deutsch-russischen Fotokünstlerin und Schriftstellerin Julia Kissina über die Situation von Frauen in Russland, in der Literatur und ihren zuletzt erschienenen Roman „Elephantinas Moskauer Jahre“ (Suhrkamp 2016).

Julia Kissina, 1966 in Kiew geboren, verbrachte ihre Jugend in Moskau und war in den 1980er Jahren Vertreterin des Moskauer Konzeptualismus. 1990 kam sie nach Deutschland und machte sich durch spektakuläre Kunstaktionen einen Namen: Sie führte eine Schafherde durch das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt und gründete 2006 den Klub der toten Künstler. Ihre Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Sie lebt in Berlin und New York.

 

Marlene Kienberger: Russland kann auf eine sehr lange feministische Tradition zurückblicken. Bereits in den 1920er-Jahren wurden Abtreibungen erlaubt, sexuelle Freiheit debattiert und Scheidungen zu einer Formalität. Doch all dies wurde unter Stalin wieder revidiert. Heute gilt Feminismus oft als Schimpfwort, die Mehrheit der Bevölkerung stellte sich gegen Pussy Riot. Es scheint, als gäbe es kaum Interesse daran, etwas gegen die erstarkenden patriarchalen Strukturen der Gesellschaft zu tun.

Julia Kissina: Lange Zeit glaubten die Menschen an die sozialistische Ideologie, und die Kirche wurde verboten. Heute dominiert eine orthodoxe, sehr konservative Religion, denn die Menschen brauchen etwas, das ihnen Regeln vorschreibt. In Russland herrscht große Identitätsverwirrung: Sind wir Asiaten, Eurasiaten, Europäer? Sind wir Mongolen, Wikinger, Slawen? Und falls ja, wer sind die Slawen? Die Geschichte wird immer wieder umgeschrieben, und die Russen befinden sich zur Zeit in einer Art Epilepsie, in einem psychotischen Zustand bezüglich ihrer Identität. Nun greifen alle auf die Religion zurück, sie erscheint wie eine Rettung der Identität. Die Religion hat auch etwas sehr Schönes an sich: ein Mysterium! Alle sind durch den Rückgriff auf die traditionelle Lebensweise und die traditionellen Geschlechterrollen ruhig gestellt. Russland ist diesbezüglich wieder im Mittelalter angekommen. Die Frauen in den 1920ern waren souverän und selbständig – die Großmütter waren viel freier als ihre Enkelinnen heute.

In Ihrem Roman „Elephantinas Moskauer Jahre“ ist das Moskau der 1980er ein intellektuell sehr aufregender Ort, ähnlich wie in den 1920er-Jahren. Die Diskriminierung von Frauen wurde in Politik und Kunst zu dieser Zeit kaum thematisiert. Kamen feministische Themen damals in der Künstler*innenszene zur Sprache?

Obwohl in den Kreisen, in denen ich mich in Moskau bewegte, viele Künstlerinnen tätig waren, war das eine Machoszene. Die Frauen waren Beiwerk, sie waren Gehilfinnen. Dies zeigt sich auch in den Mythen über die Selbstaufopferung der Ehefrauen: Wurde ein politischer Rebell in die Verbannung geschickt, waren die Frauen dazu verpflichtet, freiwillig und demonstrativ mitzugehen. Sie erfüllten damit das Bild der Heiligen – während diejenigen, die nicht mitgingen, als Huren beschimpft wurden. Diese Unterwerfung gibt es heute wieder in Russland: Eine unabhängige Frau, die sich in keine traditionelle Rolle fügt, wird als eine Hexe betrachtet. Unverheiratete Frauen mit Kindern hatten damals außerdem keine Möglichkeit zu heiraten. Und wenn du geschieden warst, lag das wie ein Fluch über dir.
Damals hatten wir in Moskau vage von Judith Butler gehört, wir wussten, dass es so etwas wie Feminismus gibt. Wir dachten, dass wir das nicht brauchen, weil wir sowieso frei sind. Als ich Anfang der 1990er nach Deutschland kam, war ich sehr überrascht: Ich habe Frauen getroffen, die gigantische Kunstwerke geschaffen haben, was in Russland unvorstellbar war. Ich war im positiven Sinne geschockt, wie Frauen in Deutschland leben konnten, nicht nur die Künstlerinnen und Schriftstellerinnen, sondern auch die Mütter und Arbeitenden.

Wie sind Sie mit den Hindernissen umgegangen, auf die Sie als Schriftstellerin in dieser Machogesellschaft gestoßen sind?

Es war nicht ganz einfach – ich kam ganz allein in eine Megapolis. Allerdings war es für mich nicht wichtig, wie mich die Menschen wahrnahmen. Ich habe mich bei keiner Gruppe angebiedert, ich wollte nie mitmarschieren. Alle dachten: sie ist zu jung, eine junge Frau, das Mädchen. Ich wollte nur ernst genommen werden als „Mensch“. In Deutschland fand letztes Jahr diese Diskussion um Ronja von Rönne statt, die in Die Welt einen Artikel gegen den Feminismus schrieb. Doch allein dem Feminismus hat sie es zu verdanken, überhaupt in der Öffentlichkeit sprechen zu können.

Fühlen Sie sich der weiblichen Schreibtradition mehr verbunden als der männlichen?

Nein. Ich war auch sehr überrascht, dass „Elephantina“ als feministischer Roman wahrgenommen wurde. Ich habe darin nur über mich geschrieben, aus meiner subjektiven Position. Ich finde es abstoßend, wenn jemand sagt, etwas sei Frauenliteratur. Das ist so wie „Katzenliteratur“ oder Kochbücherlifestylescheiße. Was uns mitgeteilt wird, ob etwas authentisch ist, ob die schreibende Person etwas zu sagen hat – das ist wichtig. Literatur ist keine Informationsquelle, sondern Quelle für seelische Übungen. Über die Literatur kann man sich retten: Wenn ich depressiv war, habe ich Henry Miller gelesen und mir gedacht, dass das Leben ja doch nicht so schlecht ist. Es gibt phantastische Männer und es gibt ebenso phantastische Frauen.

Die Heldin Ihres autobiografischen Romans lehnt ihr Geschlecht ab, um sich dem rein Geistigen und Metaphysischen widmen zu können. Bei der Lektüre kommt einem der Gedanke, dass ein männlicher Held sein Geschlecht nicht verleugnen müsste, um Schriftsteller zu werden.

Das hat nichts mit der Schriftstellerei zu tun – es hindert einen daran zu leben und zu denken! Vor Kurzem fragte mich jemand, ob es schwierig sei, zu schreiben. Nein, schreiben ist ganz einfach. Schwierig ist es, zu leben! Und als Frau ist es noch schwieriger. Literatur wurde traditionell von Männern geschrieben und wir sind es gewohnt, dass das „Ich“ in einem Roman ein männliches Ich ist. Frauen können sich sehr oft mit den Figuren in Romanen identifizieren, die männlich sind. Für die Männer hingegen ist es hart. Daran müssen wir alle noch arbeiten: Ein weibliches Ich muss auch als neutrales „Ich“ wahrgenommen werden. Es soll nicht mehr als frauenspezifische Kunst oder Literatur wahrgenommen werden. Genau dafür ist meiner Ansicht nach der Feminismus da. Es geht darum, dass er irgendwann einmal überflüssig wird.

Die Heldin Elephantina schreibt am Anfang Ihres Romans ein künstlerisches Manifest. Die ihrer Meinung nach wichtigste Regel ist, sich nicht zu verlieben, doch genau das tut sie dann natürlich. Hindert es sie daran, Schriftstellerin zu werden?

Der Bruch mit diesen Regeln ist eigentlich das Motto für den ganzen Roman. Jede literarische Geschichte beginnt mit dem Bruch einer Regel, oder der Unmöglichkeit, einen Wunsch zu erfüllen. Kunst beginnt mit einem Trauma – es gibt keine Kunst, keine Literatur ohne Verletzung. Vor allem gilt das für Kunst und Literatur der Avantgarde. Auch Nietzsche hat gesagt: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker! „Elephantinas Moskauer Jahre“ ist ein nietzscheanischer Frauenroman. Das ist es, was ich darstellen wollte: Nietzsche als Frau.

 


Eine längere Fassung des Interviews erschien bereits in der Zeitschrift an.schläge (II / 2017).


Marlene Kienberger, freischaffende Schriftstellerin und politische Aktivistin, studiert Philosophie und Slawistik und lebt in Berlin.