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Herbst 3/2024

Der unwohle Ruhestand

von Flora Eichner

Ein Glück ist sie verheiratet! – Das war der erste Gedanke, als meine Mutter mir am Telefon von ihrem Rentenbescheid berichtet: 904,18 €. Danach ein kurzer Schreck über diesen unfeministischen Gedanken, den ich eher meiner Oma als mir zugetraut habe – ups.

Zweiter Gedanke: Dann bin ich als einziges Kind jetzt wohl gefragt. Statt meiner angenehmen 34-Stunden Arbeitswoche sollte ich mich mal zusammenreißen und auf Vollzeit aufstocken. Dann fehlt mir zwar ein freier Tag, aber das ist besser als die Vorstellung, dass meine Mutter mir im Alter verschweigt, sich übers Containern zu ernähren und lieber drei Pullis anzuziehen, als die Heizung aufzudrehen. Und das mit Rheuma.

Dritter Gedanke: Wie kann es sein, dass ich mir diese Gedanken mache und die Rente für meine Mutter zur Drohkulisse wird?

Sie hat doch mit 14 angefangen zu arbeiten.

Und das war keine Taschengeldaufbesserungsmaßnahme, wie ich es in dem Alter gemacht habe, sondern die Art von Arbeit, die nach dem Volksschulabschluss auf dem Land einfach gemacht wird: als Metzgerei-Fachverkäuferin, Schuhverkäuferin oder Hauswirtschaftlerin. Die Wahl fiel auf den Beruf mit dem wenigsten Kund*innenkontakt. Also gibt es vielleicht weniger Containern im Alter, sondern durch hauswirtschaftliche Sparstrategien optimierte Rationierung und Resteverwertung.

Meine Mutter zahlt also seit fast 45 Jahren in die Rentenkasse ein. Dazu kommen Teilzeiterwerb wegen Kindererziehung, einige Monate Arbeitslosigkeit, zwei chronische Erkrankungen sowie eine Umschulung in einen Beruf, der weniger Putzen und die gleichen Rücken- und Knieprobleme bedeutet. Also alles, was in einem Frauenleben so vorkommen kann – Ehegattensplitting und Scheidung inklusive.

Meine Mutter ärgert sich heute über ihre eigenen Entscheidungen und frühere Unbekümmertheit, die sie nicht an die Rente hat denken lassen. So fand sie sich vor 15 Jahren damit ab, dass ihr Vorgesetzter ihrem Wunsch auf Vollzeit nicht nachkam.

Doch gibt es nichts zu bereuen. Denn Armut im Alter ist kein durch fehlende Sparsamkeit oder Ambition selbst verursachtes Problem, sondern ein Massenphänomen. Laut Prognosen wird in zehn Jahren das Verarmungsrisiko von Rentner:innen in Deutschland von den jetzigen 16 % auf 20 % steigen. Das Arbeitsministerium prophezeite jüngst, dass von derzeit 22 Millionen sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten 9,3 Millionen eine Rente unter 1.500 € erwartet.

Steigende Mieten und Lebenserhaltungskosten (für alte Menschen kommen noch höhere Ausgaben für medizinische Versorgung dazu) machen aus den Zahlen eine trübe Zukunftsvision. Den Soundtrack für diese Dystopie liefert das Mantra der Rentenkassenberaterin meiner Mutter „…wenn sich die Gesetze nicht ändern…“.

Die Erwerbsbiografie meiner Mutter steht exemplarisch für die Geschlechterungerechtigkeit in der Arbeitswelt, denn von Armutsrente ist jede fünfte Frau betroffen. Der sogenannte Gender-Pension Gap führt die Folgen des Gender-Pay Gaps logisch weiter. Aber auch Beschäftigte im Niedriglohnsektor, Menschen mit Migrationsgeschichte und aus Ostdeutschland müssen die Armutsrente fürchten, genauso wie alleinstehende oder alleinerziehende Frauen, besonders in Großstädten. Meine Erleichterung über die Ehe meiner Mutter ist also statistisch begründet – Glück gehabt.

Dass sie verheiratet ist, verändert ihre Situation erheblich, weil sich ein Ehe-Haushalt mit zwei Renten einfacher unterhalten lässt, selbst wenn diese zusammengerechnet die Hälfte des gemeinsamen Lohns bedeuten. Die Betonung liegt auf Ehe-Haushalt: Nicht-verheiratete Paare oder Familienkonstellationen, in denen Erziehungs- und Sorgearbeit nicht in Lohn- und Versicherungssysteme einberechnet werden, sind außen vor.

Der besondere Schutz von Ehe und Familie, den der Staat gewährt, lohnt sich also, und damit lohnen sich vermeintlich traditionelle Rollenaufteilungen, wie es weit vor der Rente das Ehegattensplitting schon vorgibt. Lohnen ist natürlich ein Euphemismus, denn auch die Ehe ist ein Verlustgeschäft für Frauen – oder wohl eher ein Verlustvertrag, denn die finanzielle Eigenständigkeit ist nicht gesichert und sie sind abhängig vom Unterhalt der Ehemänner.

Ich frage mich, ob es sich eher um eine alternde Armut als um eine Altersarmut handelt. Menschen, die eh nie viel hatten, haben im Alter noch weniger, und die Macht der Klassendifferenzen wird mehr als spürbar.

In der lesenswerten Interviewsammlung „Kein Unruhestand. Wie Frauen mit Altersarmut umgehen“ schreibt Herausgeberin Irene Götz:

„Diese sozialen Unterschiede werden in politischen Konzepten kaum berücksichtigt, welche in Deutschland seit den Reformen der rot-grüne Bundesregierung 2004 darauf setzen, dass die gesetzlichen Rentenabsenkungen außer durch Betriebsrenten vor allem durch private Zusatzversicherungen selbstverantwortlich abgefangen werden.“

Das heißt schlussendlich, dass Armut als persönliche Angelegenheit behandelt wird. Fehlt das kulturelle Kapital, das je nach Klassenzughörigkeit gelernt wird oder halt nicht, dann fehlen somit die langfristigen Absicherungsstrategien, für die man aber auch genug Einkommen erwerben muss.

Meine Mutter hat weder Vermögenswerte noch eine Immobilie – auch nicht in der Ehe. Tja, selbst schuld.

Die Diskussion um die Erhöhung des Renteneintrittsalters bringt meine Tante mit den Worten „die lassen einen ja nie gehen“ auf den Punkt.

Marlen Hobrack schreibt dazu:

„Die immer wieder aufkeimenden Debatten um die Erhöhung des Renteneintrittsalters zeigen die inhärente Klassenlogik der Rentendebatte auf brutale Weise: Für diejenigen, die von Teenager-Tagen an harte körperliche Arbeiten ausführen, ob nun als Dachdeckerin, Pfleger, als Lackiererin oder als Autobahnbauer, klingt es zynisch, wenn gefordert wird, sie sollten angesichts der steigenden Lebenserwartung länger arbeiten. Natürlich wissen wir alle, dass diejenigen, die dies vorschlagen, eher bequeme Tätigkeiten ausüben, die auch mit achtzig sehr oft noch erfüllend und vor allem machbar sind. Aber diese Aussage ist noch zynischer als landläufig angenommen: Eine Entlastung der Rentenkasse durch eine längere Lebensarbeitszeit findet nur dann statt, wenn viele Menschen die Rente erst gar nicht erreichen. Da mit der höheren Lebensarbeitszeit auch die Rentenansprüche steigen, entsteht ein positiver Effekt für die Rentenkasse nur durch das Ableben vor dem Renteneintritt oder eine verkürzte Bezugszeit. Dieser Mechanismus betrifft vor allem jene, die körperlich arbeiten.“

Das Thema Altersarmut betrifft jetzt und in Zukunft auf existenzielle Weise große Teile der Bevölkerung, deswegen ist es heute Zeit für eine umfassende Reformierung hin zu einem solidarischen Rentensystem.

Es ist Zeit für Solidarität und weniger Generationenkämpfe, die schnell in erschöpfende Kulturkämpfe ausarten und nur scheinbare Auswege aus den Krisen des Kapitalismus anbieten. Statt nur aus persönlicher Betroffenheit zu handeln, lieber intergenerationelle Klassenzugehörigkeit als Anlass nehmen, um füreinander einzustehen.

Es ist Zeit, diskriminierende Ausdrucke wie „Überalterung der Gesellschaft“ zu hinterfragen und ein Gesundheits- und Rentensystem zu fordern, das allen hilft. Die 4-Tage Woche bei vollem Lohnausgleich, eine solidarische Mindestrente und Anerkennung von Reproduktionsarbeit wären ein Anfang.

Für meine Mutter und alle anderen, die nicht den „Preis für ein langes Arbeitsleben“ (Hobrack) zahlen sollten, sondern lebensfroh und ohne Existenzangst in die Zukunft schauen mögen.


Zum Weiterlesen:
Irene Götz (Hg.) (2019): Kein Unruhestand. Wie Frauen mit Altersarmut umgehen. Verlag Antje Kunstmann, München.
Marlen Hobrack (2022): Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet. Hanser Literaturverlag, München.