Bevor das alte Wissen ausstirbt
Selbstversorgung und Eigen-Macht
Christine Hahn aus Algermissen bei Hildesheim befasst sich seit einigen Jahren mit dem Thema bedürfnisorientiertes Wirtschaften bzw. Subsistenz oder Selbstversorgerwirtschaft auf praktische und theoretische Weise und aus feministischer Perspektive: „Meine Motivation, mich damit zu beschäftigen, hat vorwiegend zwei Quellen: meine Lebenserfahrungen u. a. mit der „dörflich-proletarischen Form“ des subsistenten Wirtschaftens, mein gesellschaftskritisches Bewusstsein und meine Erfahrung mit Selbstversorger-Projekten und Kommunen.“
Sie hat uns hierzu einen Artikel und zu den staatlichen Einschränkungen aufgrund der Vogelgrippe geschickt.
In weiten Teilen der Welt ist Selbstversorgung als bedürfnisorientierte, reproduktive Form des Wirtschaftens immer noch eine vorherrschende Versorgungsform, vorwiegend betrieben von Frauen. Sie sind es, die Trinkwasser und Brennholz besorgen, auf den Feldern und in den Gärten Nahrung anbauen, um die Familien zu ernähren und sich, z. B. in Indien oder Mexiko, mit transnationalen Konzernen und Regierungen anzulegen und für ihre Existenzgrundlage zu kämpfen: (Gemeinschafts-)Land, das Recht auf eigenes Saatgut und traditionelles Wissen um die Vermehrung, Verarbeitung und Vermarktung von regionalen Pflanzen- und Tierarten.
In Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten ein Netzwerk von Ökodörfern, Selbstversorgergemeinschaften, Tauschkreisen, Stadtgärten, Vereinen zur Erhaltung traditionellen Saatguts und alter Haustierrassen entstanden. Bei aller Unterschiedlichkeit ist ihnen eines gemein: ein Diskurs, der die reine Verwertungslogik, die Ausbeutung, Verschmutzung und Patentierung natürlicher Ressourcen kritisiert und der selbstversorgende lokale Wirtschaftskreisläufe für eine politische, ökonomische und ökologische Notwendigkeit hält, die sich verallgemeinern müsste, um den Verbrauchern Eigenmacht und direkte Einflussnahme zurückzugeben. Kaum wahrgenommen werden in diesem Zusammenhang alte Menschen im Dorf als eigene „indigene Kultur“, die sich seit jeher – parallel zur Erwerbsarbeit – mit Nahrung selbst versorgen. Ich nenne diese Form der parallelen Existenz von Subsistenz- und Erwerbsarbeit ärmerer Menschen „proletarische Subsistenz“.
Proletarische Subsistenz
Die Selbstversorgerpraxis im Dorf zeichnet sich aus durch praktisch und mündlich weitervermitteltes Erfahrungswissen und eine pragmatische, nicht zwingend reflektierte Einstellung zur eigenen Praxis. In der dörflichen Welt war bis in die 1980er Jahre hinein ein Großteil der einfachen Bevölkerung darauf angewiesen, neben der Erwerbsarbeit bedürfnisorientiert zu wirtschaften. Sie versorgten sich mit Gemüse, Obst, Eiern, Fleisch, selten mit Milchprodukten. Arbeitsabläufe und Lebensmittelangebot waren an Jahreszeiten gebunden. Während in den 1950er und 1960er Jahren die Häuser noch einen großen Gemüsegarten, Hühnerstall und Schweinekoben besaßen und Weiden für Kleinvieh das dörfliche Bild bestimmten, etablierte sich in den Jahren darauf vorstadtähnliches mittelständisches Leben mit der räumlichen Trennung von Arbeits- und Wohnraum und der Zeiteinteilung von Arbeits- und Freizeit. Gemüsegärten wichen Ziergärten, Weideflächen Neubaugebieten. Die Städte zogen in die Dörfer. Parallel dazu verschwanden lokale Wirtschaften, getragen durch kleine Handwerksbetriebe und Lebensmittelhandlungen, zu Gunsten von Supermärkten.
Noch leben zahlreiche Menschen, vor allem Frauen, die über Erfahrung, Wissen und Handwerkszeug zur Selbstversorgung verfügen. Sie pflegen diese Lebensweise weiter aus traditionellen Gründen oder weil die Rente nicht reicht. Um durch die eigene subsistente Arbeit unabhängiger zu sein vom Geld. Einfluss zu haben auf die Qualität der Nahrung wird als Selbstermächtigung wahrgenommen. Ein sehr wichtiger Teil dieser Praxis ist die Wahrung und Pflege eines sozialen Netzes von Kommunikation und Tauschen. Es werden Erfahrungen, Arbeitskraft, selbstgezogenes Saatgut oder benötigte Materialien ausgetauscht. Wetter, Klimaveränderungen und deren Auswirkung auf Flora und Fauna werden beobachtet.
Diese Art der teilweisen Selbstversorgung wird nicht als eine Alternative zum oder Ausweg aus dem kapitalistischen Wirtschaftssystem wahrgenommen, wie in der neueren Selbstversorger-Bewegung, sondern ist ein selbstverständlicher und tradierter Zweig der Existenzsicherung neben der Erwerbsarbeit, in der auch tradierte Geschlechterbilder eine Rolle spielen.
Eigene Himbeeren sind unbezahlbar und kosten keinen Cent
Wer beginnt, sich mit Selbstversorgung zu beschäftigen, beschäftigt sich mit Widersprüchen. Im Rahmen einer kapitalistischen exportorientierten Ökonomie scheint diese Art des Wirtschaftens unverhältnismäßig aufwendig, wenig produktiv und damit überflüssig und wird vom gängigen gesellschaftlichen Bewertungssystem durch Geld ausgenommen. Selbstversorgung gerät in das übliche Abwertungsschema reproduktiver Arbeit. Das, was an Arbeit, Zeit, Wissen, Pflege, Körperkraft und natürlichen Ressourcen wie Boden, Wasser, Licht darin steckt, wird unsichtbar.
Was macht Selbstversorgung dennoch wertvoll? Die Arbeit ist körperlich mühsam, befriedigend, langwierig, wertvoll für die Erhaltung von Lebensräumen, für ein Wissen über ökologische Zusammenhänge, Anbau und Verwertung und Qualität von Nahrung. Die Erfahrung, für grundlegende eigene Bedürfnisse direkt Verantwortung zu übernehmen und sich von den Erzeugnissen seiner Arbeit ernähren zu können, wird als befriedigend und (Lebens-)Qualität steigernd wahrgenommen. Die Nahrungsgewinnung untersteht einer gewissen Kontrolle und Eigen-Macht in Zeiten von Privatisierung, Monopolisierung, Bürokratisierung von grundlegenden Ressourcen, wie Wasser und Energie und Verseuchung von Nahrung durch Gifte oder Genmanipulation. Die Erfahrung, wie viel Zeitaufwand, Arbeit, aber auch Freude in der Erzeugung von Nahrung steckt, macht sensibel für eine Wertschätzung jenseits von Geld. Das kann sich in bewusst sparsamerem Konsum niederschlagen, wie bei den althergebrachten Selbstversorgern, ebenso wie in einem Bewusstsein über die Ausbeutung der Erde oder von Arbeitskräften in anderen Teilen der Welt. Auch schützt die konkrete Arbeit „draußen“ vor einer idealisierten, romantisierten Vorstellung von „Natur“, denn nicht nur das Wachsen und Gedeihen, auch Krankheit, Tod und Unwetter gehören dazu.
Die Zeit unterliegt einem rhythmischen, lebendigen, kreislaufartigen, auf lange Zeiträume angelegten Gefüge, in dem Wetter, Tages- und Jahreszeiten, Bedürfnisse der Tiere und Wachstumsphasen der Pflanzen die Hauptrolle spielen. Sie ist bestimmt von denjenigen Lebewesen, für die Sorge getragen wird, um eigene, existentielle Bedürfnisse zu befriedigen, wie Hunger, Durst, Bewegung und Verbundenheit. Das steht in permanenter Reibung zur gängigen linearen „Industrie- und Dienstleistungs-Meta-Zeit“ mit der Einteilung von Arbeits- und Freizeit. Zeit für Dinge zu haben wie kreativ sein, reisen etc. ist saisonabhängig.
„Dorf“ und „Diskurs“ zusammenbringen
Die „westlichen“ Armen der Zukunft werden schlimmstenfalls mit ähnlichen Umständen zurecht kommen müssen, wie das Proletariat der Vergangenheit (keine, wenig, unterbezahlte Erwerbsarbeit, schlechte Grundversorgung, Bildung etc.), wie inzwischen in den postindustriellen Städten der USA. Proletarische Subsistenz als zusätzliche Überlebens- und Qualitätssicherung von Nahrung könnte zukünftig auch in den westlichen Gesellschaften aus rein existenziellen Gründen wieder wichtig werden. Selbstversorgung und lokales Wirtschaften sollten deshalb nicht nur auf Grund einer Einsicht in einen kritischen Diskurs vermittelt werden, wie es in den o. g. Bewegungen der Fall ist. Damit bliebe sie nur für einige Gebildete vermittelbar, fände in relativ abgesicherten elitären Nischen statt, würde bestimmte Gesellschaftsschichten, die dem Existenzkampf auf direkte Weise ausgesetzt sind, nicht erreichen. Es wäre wichtig, tradierte proletarische Subsistenz, wie sie hier zu Lande betrieben wird, in direkter Nähe, nicht in (idealisierter) Ferne wie die Selbstversorgerpraxen anderer Kulturen, wahrzunehmen, und zwar mit all ihren Härten, Widersprüchen, Rollenzuschreibungen. Aber auch Erkenntnissen, Ermächtigungsstrategien und Verbindungen zu dem, was nährt und in welcher Weise direkte Verantwortung für eigene Grundbedürfnisse übernommen werden kann. Vielleicht gelänge es, Anknüpfungspunkte für gegenseitiges Lernen, Kommunikation und Politisierung zu finden und einen Dialog zwischen gesellschaftskritischem Diskurs und den traditionellen Selbstversorgerpraxen zu initiieren, bevor diese Welt mit ihrem alten Wissen ausstirbt.