„Austerität ist nur ein modisches Wort für Klassenkrieg.“ Vio.Me und die „Klinik der Solidarität“ – ein Reisebericht aus Thessaloniki
Von Melanie Stitz
Mai 2016, Thessaloniki: Rund ein Drittel der griechischen Bevölkerung ist erwerbslos, hat daher keine Krankenversicherung und nicht das nötige Geld, um z.B. Arztbesuche, Medikamente oder Operationen privat zu bezahlen. Im Frühjahr angestoßene Reformen lassen hoffen: Die medizinische Versorgung soll künftig für alle gewährleistet sein. Illegalisierte bleiben ausgenommen. Doch wie soll der Anspruch realisiert werden? Das Gesundheitssystem und seine Infrastruktur liegen am Boden, Geld und Fachkräfte fehlen. Auch Deutschland, Exportweltmeister von Fluchtursachen, profitiert vom „Brain-Drain“, dem Abzug medizinischer Fachkräfte vor allem aus Süd- und Osteuropa, und exportiert so die eigene Care-Krise.
Getragen von der Überzeugung, dass Gesundheit ein Recht und keine Ware ist, entstand 2012 aus dem Umfeld der Solidaritätsbewegung mit hungerstreikenden Geflüchteten die „Klinik der Solidarität“. Der Gewerkschaftsdachverband GSEE stellte eine Etage im Gewerkschaftshaus, Strom und Heizung zur Verfügung. Rund um die Klinik engagieren sich unentgeltlich etwa 450 Menschen. Bei den Vollversammlungen zählt jede Stimme gleich. Ärzt_innen und Pfleger_innen versorgen psychotherapeutisch, zahn- und allgemeinmedizinisch. Ein Team kümmert sich um den Empfang, begrüßt, informiert, reicht Wasser und Gebäck, vergibt Termine stets am Ende des Monats und nur für den folgenden. Wer angesichts des Andrangs keinen Termin mehr erhält, muss wiederkommen – der Kalender wäre sonst auf ein Jahr gefüllt. Weitere Teams beschaffen Medikamente, die in der eigenen Apotheke kostenfrei vergeben werden, beschäftigen sich mit alternativer Medizin, halfen bis zur Räumung im Flüchtlingslager Idomeni, kümmern sich um Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit, organisieren Soli-Konzerte, erstellen einen Taschenkalender…
Im Austausch mit dem Gesundheitsministerium habe man viel voneinander gelernt, berichtet Eva, eine der Aktivistinnen: Die sozialen und politischen Dimensionen von Gesundheit sind offenkundig. Ab Mitte 2011, zeitgleich mit den „Sparprogrammen“, nahmen die Suizide stark zu; später stiegen Kindersterblichkeit, HIV-Infektionen, psychische, Sucht- und Herzerkrankungen sprunghaft an. „Wir sehen den ganzen Menschen, sein Umfeld und die Krise“, so Eva. Daher werde allen Patient_innen mindestens 20 Minuten Zeit, auch fürs Gespräch, gewidmet. Viele Hürden galt und gilt es zu meistern: Selbstorganisation ist ein ständiger Lernprozess, Verbindlichkeit war anfangs ein Thema, die zusätzliche und psychische Belastung ist groß. Ärzt_innen sorgten sich um Haftungsfragen und Zulassungen. Es gab Denunzierungen, die Klinik gäbe Drogen aus. Illegalisierte und ihre Daten müssen geschützt werden. Es fehlt an Medikamenten vor allem für Krebs und Diabetes.
„Keine Frage, Spenden sind hilfreich“, so Eva, die eine „Solidarität, die von außen auf uns schaut und nur helfen will“, zurück weist. Solidarität üben heiße, die Kämpfe als gemeinsame zu verstehen und sie im eigenen Land energisch zu führen: für andere Verhältnisse, höhere Löhne, soziale Rechte.
Die Solidarische Klinik unterhält eine weitere, kleinere Praxis mit wöchentlicher Sprechstunde in der 2013 von Arbeitern übernommenen und juristisch illegal betriebenen Fabrik Vio.Me. Die Eigentümerfamilie hatte die Fabrik in die Insolvenz geschickt. Da nahmen die Arbeiter das Heft selbst in die Hand, produzieren nun Bio-Seife und Reinigungsmittel und verbinden die Forderung nach Selbstverwaltung mit der Eigentumsfrage. „Wir sind also illegal“, amüsiert sich einer der derzeit 15 Arbeiter, „dabei produzieren doch alle illegal…“. Viele Wände sind mit Graffitis bemalt, hier finden gelegentlich Messen für Waren aus alternativer Produktion und Soli-Konzerte statt und wird Kleidung an Flüchtlinge weitergegeben. Das Kollektiv ist international vernetzt, das Büro mit Plakaten von Soli-Kampagnen tapeziert. Mittlerweile erwirtschaftet jeder Arbeiter 10-15 € am Tag – anfangs blieb gar nichts übrig – eine große Belastung auch für die Familien. Strom und Wasser müssen erkämpft, der Verkauf der Fabrik und des Inventars verhindert, der Vertrieb ausgebaut, die Qualität verbessert werden. Bislang werden die Produkte vor allem über internationale Solidaritätsstrukturen verkauft. Aus alten Lagerbeständen will das Kollektiv künftig Baukleber herstellen und damit vorrangig Hausbesetzer_innenprojekte beliefern. Sollten Fabrik oder Maschinen verkauft werden, könnten Kollegen einer anderen Betriebsstätte vielleicht auf ausstehende Lohnzahlungen hoffen, heißt es…
Nicht nur die Arbeiter von Vio.Me sind enttäuscht von der Syriza-Regierung. Die Versprechungen, die ihnen Alexis Tsipras im Wahlkampf gemacht hat, wurden bislang nicht eingelöst. Auch in anderen Gesprächen über Perspektiven, fehlendes Vertrauen in Stellvertreter_innenpolitik und Institutionen oder das Erstarken quasi feudaler Strukturen hören wir Einschätzungen wie diese: Die Spielräume der Regierung sind durch die EU-Spardiktate begrenzt bis kaum vorhanden. Dennoch: Syriza wisse nicht um die eigene Macht und den Rückhalt in den sozialen Bewegungen. Sie hätten „keine Ohren“ und seien zu weit entfernt von den Alltagsproblemen. Meldungen über Steuerhinterziehungen auch in der neuen Regierung verunsichern – Wahrheit oder Kampagne? Dennoch: Die neue Regierung sei das „kleinere Übel“ und noch immer die „bessere Wahl“.
Politische Debatten und Kräfteverhältnisse hätten sich spürbar nach links verschoben, berichtet Eva. In der Nacht des OXI, des Referendums gegen die Spardiktate, seien Zorn, Hoffnung und Wille zum Widerstand kraftvoll zu spüren gewesen. Dieser Eindruck sei ihr noch immer lebendig, so Eva. Zum Abschied tauschen wir Kalender: Auch jener der Klinik ist voller Texte und Bilder, die Mut machen sollen. „Austerität ist nur ein modisches Wort für Klassenkrieg“, heißt es darin.
In vielen Städten gibt es Griechenland-Soli-Komitees, z.B. auch in Köln: http://gskk.eu/
Zur mehrsprachigen Website von Vio.Me: www.viome.org/p/deutsch.html
Die Vio.Me Seife ist zu beziehen u.a. über die Zeitung Neues Deutschland:
www.neues-deutschland.de/shop/article/1457169