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Sommer 2/2024

UTOPIEN

Ausgabe 4/2019

Sie sind Kritik am Bestehenden und erzählen zugleich von dem Wunsch, das Beste aus dem Bestehenden herauszuholen. Ihr Baustoff ist das Hier und Jetzt. Sie sind zusammengefügt aus dem, was widerständig und hoffnungsvoll schon keimt und nützlich ist für künftiges Gemeinwesen, neu arrangiert und gewichtet, z.B. in den Händen aller und nicht weniger, zum Wohle einer solidarischen Gesellschaft. Utopien verhandeln zugleich auch die Frage, was uns festhält in den Verhältnissen, was von uns zurückzulassen und zu überwinden ist und verlernt werden muss. Sie sind so immer zugleich ein Dagegen wie ein Für-etwas-anderes. Marge Piercy zum Beispiel beschreibt in „Frau am Abgrund der Zeit“ ein utopisches Gemeinwesen, gegründet auf einer radikalen Inventur des Bestehenden und aller Ressourcen. Geschlecht und Hautfarben haben ihre Bedeutung verloren, Kinder purzeln aus dem großen Brüter, alle Arbeit wird geteilt und getan, weil sie nützlich und notwendig ist. Schwierige Entscheidungen mussten gefällt werden. Dass der Kaffeekonsum reduziert wurde, weil er sonst global nicht verallgemeinerbar sei, mag noch harmlos erscheinen. Verhandelt wurde auch, wie begrenzte Ressourcen genutzt und wohin der technologische Fortschritt gelenkt werden soll. Auch Liebgewonnenes musste aufgegeben werden, um eine andere Welt zu gewinnen, die auch für künftige Generationen noch bewohnbar ist. Brandaktuelle Fragen, denken wir an die Herausforderungen, vor die der Klimawandel uns stellt. Mit unserer Produktionsweise steht auch unsere Lebensweise zur Diskussion. In solchen Widersprüchen bewegt sich unsere utopische Praxis.

[…]
Angesichts von Krieg und Armut, von Klima- und Umweltzerstörung, von erstarkenden rechten Bewegungen weltweit scheinen nur noch Utopien realistisch zu sein. Utopien, von uns mehr oder minder ausgemalte (noch) Nicht-Orte, sind das eine. Es braucht dazu noch den ersten Schritt. Und dann den zweiten. Die anderen, Mitstreiter*innen, ein Kollektiv, um nicht verrückt zu werden und etwas zu bewegen. Hoffnung, immer wieder, trotz aller Niederlagen. Lernen aus Erfolg und Misserfolg. Widerstand in vielen Formen leisten. Und auch: mit Gegenwehr rechnen. Denn wer sich Räume, Produktionsmittel und Zeit aneignet, handelt in diesen Verhältnissen meist wider herrschendes Recht – wie die Arbeiter von vio.me im griechischen Thessaloniki, wie all die Haus- und Land- und Platzbesetzer*innen dieser Welt. Wer solches tut, muss auf brachiale Gegenwehr und Repressionen gefasst sein, muss die erkämpften Räume und Territorien verteidigen. Immer wieder wird juristisch „nachgelegt“, um Widerstand zu kriminalisieren, wie die Retter*innen auf dem Mittelmeer und derweil alle, die Abschiebungstermine weitergeben. Wie im Nachgang der G20-Proteste und in Sachen Neue Polizeigesetze. Selbst das Containern, das Retten von Nahrungsmitteln aus dem Müll, wird hierzulande mancherorts als Diebstahl, Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung geahndet. Kurzum: Sobald es ernst wird, wird es ernst.
Es lässt sich dieser Tage nicht schreiben über Utopien, ohne an die Menschen in Rojava zu denken. Dort leben mitten im syrischen Bürgerkrieg vier Millionen Kurd*innen, Araber*innen und Syrer*innen friedlich zusammen. Im „Gesellschaftsvertrag“ der Demokratischen Föderation Nordsyriens sind die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Religionsfreiheit vereinbart, die Todesstrafe ist verboten. Angesichts der brutalen Angriffe durch türkisches Militär in diesen Tagen, fällt es nicht leicht, die Hoffnung zu behalten – und bleibt doch wichtiger denn je.

(aus der Einleitung )


Inhalt dieser Ausgabe:

Schwerpunkt: UTOPIEN
Einleitung: Utopien
von Melanie Stitz

Zur emanzipatorischen Kraft von Dystopien
von Isolde Aigner

Munizipalismus – Von einer partizipatorischen Demokratie
von Gabriele Bischoff

Postkoloniale feministische Utopien
von Denis Bergold-Caldwell

Feminismus für die 99% – ist das neu?
von Daniela Weißkopf und Melanie Stitz

Feministischer Algorithmus
Interview von Kathrin Schultz mit Caroline Sinders

Meine feministische Wahrheit
Dagegen halten
von Kollektiv „F*f“ – Das Feministische*forum Görlitz

Krieg & Frieden
Edle Tees für Hungerlöhne

Genug ist genug! Eine Entscheidung für den Frieden
von Tina Berntsen

WHO CARES?! Kämpfe um Reproduktion und Gewerkschaftsarbeit
Die Positionen weiter schärfen! 5 Jahre Care Revolution – eine Bilanz
von Gabriele Winkler

Herstory
Neu gelesen: „Backlash“ von Susan Faludi
von Daniela Weißkopf

Kultur
Friederike Mayröcker: Poesie als utopischer Ort
von Christiana Puschak

Projekte
Belästigungen ankreiden, wo sie passieren
von Annegret Kunde

Gesehen
Gott existiert, ihr Name ist Petrunya
von Gudrun Lukasz-Aden / Christel Strobel

Daten und Taten
Medha Patkar / Regina Ullmann