Utopia
Lange schien es ruhig geworden um die Frage feministischer Utopien. Zusammenhängende Analysen, große Erzählungen und Entwürfe einer anderen Welt schienen in Misskredit geraten. Viele vereinzelten sich in punktuell ansetzenden Kämpfen und kamen nur kurzfristig und unverbindlich, ohne gemeinsames Projekt, bei großen Protest-Events zusammen. Welche gemeinsamen Momente gibt es in den Kämpfen von (queer-)Feministinnen, Migrant_innen, anti-kolonialen Bewegungen, Umweltschützer_innen, Globalisierungskritiker_innen und Antifaschist_innen?
Vielleicht die Idee radikaler Demokratie, einer Politik „von unten“, die Einbeziehung aller, unabhängig von Besitz, Geschlecht und Nationalität. In den herrschenden Formen und Verfahren, Architekturen und Zeitregimes ist das undenkbar. „Politik“ erscheint als paralleles Universum, der Zutritt für „Laien“ und „Unbefugte“ verwehrt. Wie sähe ein von direkter Demokratie durchdrungener Alltag aus: unser Viertel, die öffentlichen Räume, das Sortiment im Supermarkt, die Arbeit, die Schule oder das Fernsehprogramm?
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„Lenin hat vorgeschlagen, die Köchin solle den Staat regieren und dazu hat Brecht gesagt, freilich müsste es dazu eine andere Köchin sein und ein anderer Staat, und dann ergänzt, vielleicht wäre es auch eine gute Idee, den Staat wie eine Küche einzurichten und die Küche wie einen Staat“, schreibt Frigga Haug. (1) Fragen wie diese im Sinn, macht das Lesen dieser Tage wieder Spaß. 2012 erschien „Die Republik der Frauen“ von Gioconda Belli: Feministische Freundinnen gründen die „Partei der erotischen Linken“. Sie ziehen von Haus zu Haus, lackieren den Frauen die Fußnägel rot und reden während dieses sinnlichen Vergnügens über Politik. Ihr Programm legen sie Waschmittel- und Tamponpackungen bei. Sexistische Zuschreibungen eignen sie sich offensiv an und versprechen, in ihren Händen würde das Land bald duften wie frisch gewaschene Wäsche. Ein Vulkanausbruch führt auf mysteriöse Weise dazu, dass für einen begrenzten Zeitraum alle Männer in Lethargie verfallen. Kurzerhand werden sie befristet aus allen öffentlichen Ämtern nach Hause geschickt und räumen den Platz für Frauen, die nun agieren, dabei Fehler machen und lernen – der einzige Weg, das politische Geschäft und (kollektives) Selbstvertrauen zu erlernen. Eine Protagonistin bilanziert: „Die Maßnahme war ziemlich extrem. (…) Ich würde nicht so weit gehen, es als absolut notwendige Maßnahme vorzuschlagen, damit die Frauen anerkannt werden. Was ich jedoch sicher weiß, dass es in meinem Land eine Veränderung brachte, die sich gelohnt hat. Man braucht sich nur anzuschauen, mit wieviel Respekt jetzt die Hausarbeit betrachtet wird.“ (2)
Ferner erschien 2012 der „Aufstand aus der Küche“ als Auftakt der Reihe „Kitchen Politics. Queerfeministische Interventionen“ mit Essays von Silvia Federici zur Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus, zur Idee der „Commons“ (Gemeingüter) und den Risiken ihrer neoliberalen Vereinnahmung sowie zur in den 1970er Jahren geführten Debatte um Lohn für Hausarbeit. „Die Arbeit, die Frauen im Haushalt leisten, nicht zu sehen, bedeutet blind zu sein für die Arbeit und die Kämpfe der überwiegenden Mehrheit der Weltbevölkerung, die nicht entlohnt wird. Es bedeutet zu ignorieren, dass das amerikanische Kapital auf der Grundlage nicht nur von Lohnarbeit, sondern auch von Sklavenarbeit aufgebaut worden ist, und dass es bis zum heutigen Tag gedeiht dank der Arbeit, die Millionen von Frauen und Männern auf den Feldern, in den Küchen und in den Gefängnissen der USA und der ganzen Welt leisten“ (3), heißt es in „Counter-Planning from the kitchen“, und weiter: „Lohn für Hausarbeit bedeutet, dass wir uns weigern, unsere Arbeit als biologisches Schicksal zu akzeptieren, was eine unverzichtbare Voraussetzung für unseren Kampf gegen die Arbeit darstellt.“ (4)
Diese Debatte hat nichts zu tun mit „Herdprämie“ und anderen Maßnahmen, die über den Rückbau des Sozialstaats hinwegtrösten sollen. Lohn für Hausarbeit sei nicht die Revolution, sondern eine Strategie: „Unser Ziel ist es, unbezahlbar zu sein. Wir wollen einen Preis, der unsere Marktfähigkeit aufhebt. Wir wollen, dass Hausarbeit, Fabrikarbeit und Büroarbeit „unökonomisch“ werden.“ (5)
„Was wir benötigen, ist die Wiederaufnahme eines kollektiven Kampfes um die Reproduktion, der darauf abzielt, die Kontrolle über die materiellen Bedingungen der Produktion von Menschen wiederzuerlangen und neue Kooperationsformen zu entwickeln, die außerhalb der Logik von Kapital und Arbeit angesiedelt sind“, erklärt Federici an anderer Stelle. (6)
Sie verweist auf den Erfahrungsschatz von Frauen, allen voran der Migrantinnen wie der Domestic Workers United oder der Mujeres Unidas in den USA, der Aktivist_innen der Landlosenbewegung sowie der Subsistenzbäuer_innen und illegalen städtischen Siedler_innen in Indien, China und Nordafrika. Auch lohne der Blick in die Geschichte, z. B. zu den Hausfrauenkooperativen und Baukonzepten der „materialistischen Feministinnen“ aus den USA der 1860er Jahre.
Landbesetzungen und Stadtteilgärten, Experimente der Tauschwirtschaft und gegenseitigen Hilfe, Versuche, die in Privathaushalten isolierte (und daher extrem unökologische) Lebensweise zu überwinden, alternative Formen der Gesundheitsversorgung, die Verteidigung oder Wiederaneignung gemeinschaftlicher Güter: „Aus diesen Bemühungen geht eine neue Ökonomie hervor, die die Reproduktionsarbeit aus einer dumpfen, von Diskriminierung geprägten Tätigkeit in eines der befreiendsten und kreativsten Experimentierfelder für zwischenmenschliche Beziehungen verwandeln könnte.“ (7)
Das System hat keinen Fehler, es IST der Fehler: Der Kapitalismus tendiert dazu, seine eigenen Grundlagen als wertlos zu erklären, sie sich (unbezahlt) anzueignen und zu zerstören. Dazu zählt die Natur ebenso wie die gesellschaftliche Solidarität und die sozialen Beziehungen, sogar die Menschen selbst. Nancy Fraser spricht in diesem Sinne von einem möglichen und sinnvollen Bündnis zwischen Umweltaktivist_innen und Feminist_innen, warnt aber zugleich davor, den liberalen Strömungen auf den Leim zu gehen, die lediglich auf die Modernisierung der Verhältnisse, z. B. auf einen „grünen“ oder gegenderten Kapitalismus, setzen. (8)
Als Antwort auf die Krise der gesellschaftlichen Reproduktion sind wir angehalten, jede für sich als Unternehmer_in zu agieren und immer mehr reproduktive Dienstleistungen auf einem wachsenden Markt zu (ver)kaufen, rund um Haushalt, Pflege und Betreuung, Freizeit, Wellness, Gesundheit, Partnerschaft oder Freundschaftspflege. (9) Die Vermarktlichung der Reproduktion vollzieht sich zumeist aus der Not geboren, unter prekären Bedingungen und bezahlt unter Wert.
Dabei werden zumeist die alten Arbeitsteilungen zwischen Männern und Frauen, „1. Welt“ und „3. Welt“, „Bio-Deutschen“ und Migrant_innen reproduziert. Entlang globaler Betreuungsketten (global care chains) exportieren die wohlhabenden Länder ihre Krise der Sorgearbeit in die Peripherie.
Die Reproduktion ins Recht setzen, Kollektivität lernen und leben, ökologisch handeln – was heißt das konkret? Sich – auch spontan – Zeit für Freund_innen und Familie nehmen, nachbarschaftliche Hilfe anbieten, mit anderen in Ruhe und Echtzeit diskutieren, selbst und gemeinsam kochen, die Wäsche aufhängen statt in den Trockner stopfen, sich informieren, was das billige Zeug wirklich kostet und wer den Gewinn einstreicht, mal wieder was reparieren, flicken, ausleihen oder teilen, lernen, gut zu sich zu sein und zu regenerieren, auch ohne auf die Wellness-Industrie zurückzugreifen, es wagen, andere um Hilfe zu bitten …
Das setzt die Wiederaneignung unserer Zeit voraus – auf diesem Gedanken basiert die Vier-in-Einem-Perspektive (10). Auch die new economics foundation kommt zu dem Schluss: Eine Wochenarbeitszeit von 21 Stunden sei der Schlüssel, um den dringlichsten und miteinander verbundenen Problemen zu begegnen: Überarbeitung, Arbeitslosigkeit, Überkonsum, hoher CO2-Ausstoß, mangelndes Wohlbefinden, wachsende Ungleichheiten usw. (11)
Ein utopischer Entwurf muss also auch Antwort geben auf den Stellenwert der (Lohn-)Arbeit. Brecht schrieb einmal über den Kommunismus, es gehe nicht um eine „idyllische Staatsform, in der die Sorge um das Materielle den einzelnen von der Masse abgenommen wäre. (…) Die Revolution soll im Gegenteil jene Sorge zur Sorge aller machen. (…) In Wirklichkeit müssen nur alle Leute instand gesetzt werden, es sich leisten zu können, um der Arbeit willen zu arbeiten!“ (12)
Melanie Stitz
Inhalt dieser Ausgabe
Den Nagel auf den Kopf getroffen
Aufstand aus der Küche
Der Traum vom feministischen Sozialismus: Flora Tristan
Tagungsbericht zu Sex-Arbeit
One Billing Rising!
Meine feminstische Wahrheit
Eine gerechte Hochschule ist möglich
Krieg und Frieden
AbtreibungsgegnerInnen: neue Radikalität
Mexiko: Nicht eine Tote mehr
Indien: Maßnahmen gegen Gewalt
Projekte
AK Frauengesundheit: 19. Tagung
Denkumenta 2013
e*Vibes
Herstory
Hat der bewaffnete Kampf ein Geschlecht?
Kultur
Frauenverband Courage
Dt. Krimipreis 2013: Merle Kröger
Gesehen
Hannah Arendt
Filmbranche: Strategien für die Gleichberechtigung
IFFF: Programm Exzess
Daten und Taten
Klara Schabrod / Gardi Hutter
Außerdem
Hexenfunk
Gelesen
Impressum
1 Frigga Haug: Die Vier-in-Einem-Perspektive und das bedingungslose Grundeinkommen. Notizen aus einem Diskussionsprozess, S. 56, in: Anne Allex, Harald Rein (Hrsg.): „Den Maschinen die Arbeit … Uns das Vergnügen!“, AG Spak 2011
2 Gioconda Belli: Die Republik der Frauen, Droemer Verlag 2012
3 Silvia Federici und Nicole Cox: Counter-Planning from the kitchen, in: Aufstand aus der Küche, Edition Assemblage 2012, S. 110
4 a. a. O. S. 122, der Text versteht sich als Intervention in die US-amerikanische Debatte
5 a. a. O. S. 126
6 Silvia Federici: Reproduktionsarbeit im globalen Kapitalismus und die unvollendete feministische Revolution, in: Aufstand aus der Küche, Edition Assemblage 2012, S. 83
7 a. a. O. S. 84
8 Nancy Fraser: Feminismus ohne Strategie, in: Luxemburg 4/2012 – Reproduktion in der Krise, S. 67
9 Siehe Arlie Russel Hochschild: Wie wir uns selbst outsourcen, in: Luxemburg 4/2012 – Reproduktion in der Krise, S. 52 ff
10 Frigga Haug: Die Vier-in-Einem-Perspektive, Argument Verlag 2008
11 www.neweconomics.org/publications/21-hours
12 Bertolt Brecht: Marxistische Studien, in: Werkausgabe Bd. 20, Schriften zur Politik und Gesellschaft, Suhrkamp Verlag, S. 49