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Frühjahr 1/2024

Überwachung

Überwachung nimmt alles, was sich bewegt, in den Blick oder den Lauschangriff, um zu identifizieren, zu lokalisieren, zu separieren, zu kontrollieren, zu disziplinieren…. Überwacht werden Grenzen und öffentliche Plätze, Emails und Telefonate, mit dem Ziel, verdächtiges Verhalten und ketzerische Reden zu erfassen, um zu verhindern, dass Menschen sich subversiv zusammenfinden, Empörung teilen und Vereinzelung überwinden, Europa oder die USA erreichen, Frieden stiften, Plätze besetzen und Bankenviertel stürmen, rumlungern ohne einzukaufen oder einen Betriebsrat gründen. Die Gedanken sind (noch) frei –  es sei denn, eine hat bereits den neuesten Trend, das Stirnband „Muse“ erstanden, das Hirnströme aufzeichnet und beim Konzentrieren hilft, weil es piept, wenn frau gedanklich abschweift. Unzählige Apps und Messgeräte ersetzen bereits das eigene Körpergefühl und zeigen an, wie es mir geht, worauf ich Appetit haben, ob ich jetzt ruhen oder mich bewegen sollte. Das ist hilfreich bei Demenz und Diabetes, ein Hype jedoch auch bei vielen anderen, die aus der Selbstoptimierung Lust gewinnen. Frei verkäuflich sind Drohnen und allerlei militärisches Spielzeug, um NachbarInnen und Babysitter zu überwachen. Apps erlauben, stets zu verfolgen, wo sich unsere Liebsten und andere, denen wir nicht vertrauen, gerade aufhalten.

Michel Foucault beschrieb den „abendländischen Geständniszwang“: „(…) in der Justiz, in der Medizin, in der Pädagogik, in den Familien wie in den Liebesbeziehungen, im Alltagsleben wie in den feierlichen Riten gesteht man seine Verbrechen, gesteht man seine Sünden, gesteht man seine Gedanken und Begehren, gesteht man seine Vergangenheit und Träume, gesteht man seine Kindheit, gesteht man seine Krankheiten und Leiden; mit größter Genauigkeit bemüht man sich zu sagen, was zu sagen am schwersten ist; man gesteht in der Öffentlichkeit und im Privaten, seinen Eltern, seinen Erziehern, seinem Arzt und denen, die man liebt; man macht sich selbst mit Lust und Schmerz Geständnisse, die vor niemand anders möglich wären, und daraus macht man dann Bücher. Man gesteht – oder man wird zum Geständnis gezwungen (…), man spürt es in der Seele auf oder entreißt es dem Körper. (…)  Die waffenloseste Zärtlichkeit wie die blutigsten Mächte sind auf das Bekennen angewiesen.“ Auf diese Weise betreibe die Macht die ihr so nützliche „Individualisierung“ – und alle helfen mit. Fast jedeR hält Persönlichkeitsrechte für schützenswert. Dennoch verscherbeln viele für einen Einkaufsgutschein oder ein paar Facebook-Likes eigene Daten oder Bilder. Wunderbar beschreibt Katharina Döbler in ihrem Artikel „Komplizin meiner Überwachung“ ihre Faszination ob der Zuverlässigkeit, mit der Amazon und google stets schon wissen, was sie als nächstes erwerben wollen wird: „(…) was „mein“ Traum ist, hat der Algorithmus bereits errechnet, bevor ich selbst es weiß. Vielleicht ist es das, wovor ich mich in Wahrheit fürchte: die völlige Enteignung meiner Persönlichkeit. Und die Entdeckung, dass ein so originelles, vielseitiges und besonderes Individuum wie ich von einer Maschine berechnet werden kann. Aber mit solchen Überlegungen gehe ich den bösen Riesen bereits ins Netz: „Ich“ ist auch nur ein Marketingprofil.“

Es geht zudem um „unsere Sicherheit“, um „unsere Freiheit“ und „Gesundheit“. Die Anrufung dieser Werte fällt auf fruchtbaren Boden, in Zeiten, in denen das Leben prekär, kaum ein Job mehr sicher und Zukunft nicht mehr planbar ist, in denen Lohnarbeit stets zu viel oder zu wenig und entgrenzt ist, was viele Menschen leiden macht, derweil das Unbehagen an Demokratie und Medien zunehmend wächst – und das aus vielen guten Gründen. Was geschieht, wenn all das nicht produktiv gewendet wird? Droht dann die „Faschisierung der Gesellschaft“ und erstarkt die „Ideologie der gesunden Normalität“? Wer „anständig“ ist und sich ruhig verhält, hat schließlich nichts zu verbergen. Starke Worte. Aber mit Blick auf aktuelle Diskussionen: Wächst nicht Tag für Tag das Einverständnis in Kontrolle, Überwachung und Repression gegenüber allen, die angeblich „nicht dazu gehören“  oder am Rande der Gesellschaft stehen?

In dieser Ausgabe schreibt Christiana Puschak über den verinnerlichten Blick von außen und hofft, dass Mädchen lieber selbst zur Kamera greifen, als Normvorstellungen zu entsprechen. Über die „schöne neue Arbeitswelt“, in der (nicht nur) Verkäuferinnen und Call-Center-Agents überwacht werden, schreibt Melanie Stitz. Anna Schiff stellt den Zusammenhang her zwischen der Überwachung von BürgerInnen, die zu wenig haben, und den Kameras an den Häusern derjenigen, die zu viel haben. Mit der Selbstüberwachung mittels sogenannter Fitness-Apps beschäftigt sich Nadine Dannenberg und Isolde Aigner stellt die Netzfeministin Rena Tangens vor. Katharina Volk hat für diesen WIR FRAUEN-Schwerpunkt Hinweise auf Überwachung in ihrem Alltag fotografiert.

2001 widmeten wir dem Thema schon einmal einen Schwerpunkt. Wir fragten nach informationeller Selbstbestimmung, danach, was sich von NomadInnen lernen lässt, und ob Überwachung die Welt für Frauen sicherer macht. Eine Kaufhausdetektivin berichtete von ihrem Alltag. Manches, was wir damals schrieben, scheint heute, angesichts der neuen Möglichkeiten, nichts mehr zu verbergen, beinah anrührend. Anderes ist noch immer aktuell. Die Texte jener Ausgabe gibt es hier.

Melanie Stitz

Inhalt dieser Ausgabe

Korinthe/Impressum
Inhalt/Editorial
Hexenfunk

Schwerpunkt: Überwachung


Einleitung
Melanie Stitz

Nichts zu verbergen
Melanie Stitz

Aus Kindern werden Leute – aus Mädchen werden…?
Christiana Puschak

Von Eselsmützen und Gewerkschaftsvermeidung
Melanie Stitz

Vater Staat überwacht seine armen Kinder
Anna Schiff

Die (Selbst-)Überwachung des quantifizierten Selbst
Nadine Dannenberg

Rena Tangens– Die Netzfeministin der ersten
Stunde gegen Überwachung im Internet
Isolde Aigner

Ihr an uns: Veganismus: keine Frage des Geldes, sondern des Gewissens

Meine feministische Wahrheit


Mein Name ist nicht Beate.
Dr. Didem Ozan

Wer spricht für wen? Mareen Heying
Mareen Heying

Das „Hurenstigma“ bekämpfen

Krieg und Frieden


Frieden in Afghanistan? Vergessen? Von Kristine Karch
Kristine Karch

Völkermord in Namibia endlich anerkennen!

Projekte


Maka Pads – alternative Monatshygiene.
Anna Schiff

Veranstaltungshinweis: Mutterrolle vorwärts-rückwärts?

Das Feministische Politikwochenende (FemWo) 2015 im Moesli Kämpfe um Reproduktion und Gewerkschaft

„Sollen sie sich doch tot streiken!“.
Anna Conrads

Herstory


Fluchthelferin in den Pyrenäen – Lisa Fittko vor 75 Jahren.
Florence Hervé

Eintritt in die Historie – Die (unbekannte) Geschichte der ostdeutschen Frauenbewegung in Leipzig
Jessica Bock

Kultur
„Ein braves Mädchen zu sein, kann uns umbringen.“ Die Bloggerin Laurie Penny über Widerstand und Selbstbestimmung.
 Isolde Aigner

Ausstellung: Desperate Housewives?

Künstlerinnen räumen auf in Würzburg

Daten und Taten


Rahel Hirsch
Alma Ketting