Stell dir vor, es ist Frieden.
Seit 2014 haben Bürgerkriege und militärische Konflikte insbesondere an den EU-Außengrenzen zugenommen: in der Ukraine, dem Irak, in Mali und Syrien. Diese Kriege sind Ursache für die dramatische Flüchtlingsbewegung weltweit. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren nicht mehr so viele Menschen auf der Flucht, wie gegenwärtig. Von den rund 60 Millionen Menschen sind die meisten Binnenflüchtlinge, die vor Krieg fliehen. Auch hierzulande wird der Krieg in der Welt greifbarer und realer, er spielt sich nicht jenseits der Festung Europa ab, sondern er ist aufgrund der Anschläge von Paris, Brüssel Nizza und des (vielleicht vermeintlichen) Putschversuches in der Türkei und nicht zuletzt durch die Menschen, die Schutz vor Krieg und Gewalt in Europa suchen, ganz nah. Krieg war und ist immer ein Mittel der Herrschaftssicherung – sowohl nach innen wie nach außen gerichtet. Der Ausnahmezustand in Frankreich geht in die Verlängerung und gleichzeitig verabschiedet die französische Nationalversammlung eine der umstrittensten Arbeitsmarktreformen, mit der auf eine Lockerung des Arbeitsrechts zu Ungunsten der Arbeiterinnen und Arbeiter abgezielt wird und die gravierende Folgen auf den sozialen Zusammenhalt eines sowieso schon zutiefst gespaltenen Landes hat. In der Türkei werden nicht erst nach dem Putschversuch rechtsstaatliche Elemente über den Haufen geworfen, um auch Kritiker_innen der AKP-Regierung zum Schweigen zu bringen.
Frieden ist unterfinanziert
Gleichzeitig nimmt das Geschäft mit dem Krieg weiterhin zu. Vor Jahren erklärte der UN-Generalsekretär Ban Ki Moon: „Die Welt ist überrüstet und der Frieden ist unterfinanziert.“ Leider stimmt das noch immer. Anfang Juli wurde bekannt, dass die deutschen Rüstungsexporte 2015 sich im Vergleich zum Vorjahr auf 7,86 Milliarden Euro fast verdoppelt haben. Mit zur militärischen Ausrüstung gehören Ferngläser, mit deren besonderer Weitsicht Geflüchtete in überfüllten Booten rechtzeitig vor den EU-Grenzen gesichtet werden können. Klar ist, es geht nicht um die Rettung von Menschen, sondern darum zu verhindern, dass sie die europäischen Grenzen passieren.
Ach ja, Europa – als wir 2014 eine Ausgabe der Wir Frauen zum Thema „Stell Dir vor, es ist Krieg“ anlässlich des vor 100 Jahren ausgebrochenen Ersten Weltkrieges und vor 75 Jahren ausgebrochenen Zweiten Weltkrieges herausbrachten, schrieb Melanie Stitz in der Einleitung von einer EU, die gerne als Friedenprojekt besungen wird. Dieses Lied singt derweil keine_r mehr. Im Gegenteil hat diese EU enorme Probleme, überhaupt noch als eine Einheit wahrgenommen zu werden. Das Erstarken rechter Bewegungen in einem Großteil der europäischen Länder sowie der Brexit sind Zeichen eines Rückbesinnens auf Nationalstaatlichkeit, die der Idee „Europa“ zutiefst zu widerlaufen. In erschreckend deutlicher Weise geben sich dabei rassistische und patriarchale Machtverhältnisse die Hand, führen zu einer Rücknahme erkämpfter Frauenrechte – wie dem Recht auf Abtreibung – oder der Idee einer über Nationalstaaten hinaus gedachten Solidarität.
Frauen: Das friedliche Geschlecht?
Feministische Auseinandersetzungen mit Krieg und Frieden hinterfragen nicht nur gängige Konzeptionen von kriegerischer Gewalt und Sicherheit, sondern setzten diese auch in einen Kontext mit Geschlechterungleichheiten. So werden Frauen und ihre Bedeutung sowohl in kriegerischen Situationen als auch in Friedenszeiten sichtbar gemacht. Feministische Kritiken entzünden sich vor allem an sogenannten Sicherheitspolitiken, die im Namen der Rechte von Frauen militärisch durchgesetzt werden. So geschehen im Krieg gegen Afghanistan. In den USA und auch in Deutschland dienten Berichte über das Leid afghanischer Frauen dazu, den Militäreinsatz zu legitimieren und „den Krieg gegen die Taliban als eine Aktion zur Rettung und Befreiung der afghanischen Frau zu (v)erklären“ (Nachtigall 2014: 90). Die Befreiung von Frauen und feministische Forderungen werden dabei nur oberflächlich verfolgt. Denn, die Situation für Frauen in Afghanistan hat sich – wenn überhaupt – nur bedingt verbessert.
Dass Frauen angeblich friedfertiger sind, widerlegt nicht erst Ursula von der Leyen. Seit 2013 nimmt mit ihr zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Frau die Geschäfte des Verteidigungsministeriums in die Hand. In der BRD sind Frauen seit 2001 zum Wehrdienst zugelassen und gegenwärtig sind knapp 19.465 Frauen in der Bundeswehr (Stand: Juni 2016). Aber ebenso wenig wie Frauen von Geburt an friedlich sind, sind Männer von Geburt an kriegerisch. Auch Männer und Jungen sind von sexualisierter Kriegsgewalt betroffen, nur wird darüber weniger gesprochen. Dass auch sie schutzbedürftig und schwach sein können, ist noch immer ein Thema, über das meist geschwiegen wird.
Frieden kennt keine Grenzen
„Nie wieder Krieg“ – mit diesen Worten tritt eine von Käthe Kollwitz 1924 gezeichneter Jugendlicher mit einem zur Mahnung hochgestreckten Arm für den Frieden ein. Dieser Appell allein bewegt die Menschen noch nicht, dafür ist er zu abstrakt. Es ist die Erfahrung der gemeinsamen, über Ländergrenzen hinausgehenden Arbeit für den Frieden, für eine friedliche (Welt-) Gesellschaft, der es bedarf. Es geht darum, die Ursachen von Krieg und Flucht in den Blick zu nehmen und um die Bereitschaft, das eigene Leben zu ändern. Denn der Wohlstand hierzulande hängt zusammen mit der Armut in anderen Ländern. Ziel muss sein, lokale Wertschöpfungsketten zu schaffen, damit die Menschen von ihrer Arbeit leben können und der billige Export aus den reichen Industrieländern nicht die Märkte in den Ländern des globalen Südens kaputt macht, siehe aktuell die Milchpreise in Europa und Afrika. Auch wenn die Zusammenhänge komplex, verwoben und undurchsichtig sind, darf dies nicht dazu führen, sich mit einfachen Erklärungen zufrieden zu geben.
Bedeutsam ist es auch, die richtigen Fragen zu stellen: Wem nützt der Krieg? Wie und mit wem schmieden wir Bündnisse, um ein friedliches Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Geschlechts und Sexualität, verschiedener Hautfarben und ethnischer Herkunft und Religion zu ermöglichen? Wie bleiben wir handlungsfähig, wenn doch bereits die Frage des „Wirs“ zu Konflikten führt? Ein Bespiel für eine transnationale Verständigung geben die internationale Frauenbewegung und all jene Frauen, die sich global für den Frieden vernetzen. Diese Frauen zeigen mit ihrem Engagement, dass es möglich ist, über nationale Grenzen hinweg Solidarität zu leben. Die Vision bleibt: Kämpfen für eine friedliche Weltgesellschaft und eine menschliche Emanzipation.
Mit dem Erscheinen dieses Heft haben sich die Konflikte und Kriege in der Welt nicht aufgelöst, manche vielleicht verschlimmert. Mit diesem Schwerpunkt zum Thema Krieg und Frieden werfen wir Fragen auf und suchen Erklärungen. So räumt Ute Scheub mit Klischees auf, nach denen Frauen mit Frieden und Männer mit Krieg gleichgesetzt werden und Kathrin Schultz stellt den Anti-Drohnen-Kampf von Medea Benjamin von CODEPINK vor. In ihrem Beitrag untersuchen Margarete Jäger, Regina Wamper und Isolde Aigner vom DISS in Duisburg den seit 2015 geführten medialen Diskurs zum Thema Geflüchtete anhand dreier deutschsprachiger Zeitungen. Frigga Haug nimmt Rosa Luxemburg zur Hand, um ihre Art und Weise des Eingreifens zu begreifen: Luxemburg wirft die Frage der Hegemoniegewinnung auf, d.h. die Frage, wie Mehrheiten zu gewinnen sind – nicht für den Krieg, sondern für eine friedliche Gesellschaft. Der Frage, wie Frauenbefreiung und der Ruf nach sexueller Selbstbestimmung den Einsatz von Gewalt legitimieren und wie diese Gewalt bereits in unseren Köpfen in Form von Bildern und Symbolen entsteht, widmet sich Claudia Brunner in ihrem Artikel. Katharina Volk und Isolde Aigner berichten von ihrem Treffen mit Ayla Akat Ata und Besime Konca über die Situation von Frauen in der Türkei, dass vor dem Putschversuch in der Türkei stattgefunden hat.
Für den Abdruck der Texte danken wir allen Autorinnen.
Katharina Volk
Zum Weiterlesen: Nachtigall, Andrea (2014): PERIPHERIE-Stichwort „Embedded Feminism“. In: PERIPHERIE, Nr. 133, 34. Jg., Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 90-93
Die WIR FRAUEN Ausgabe 2014 | 2 widmete sich dem Schwerpunktthema „Stell dir vor, es ist Krieg!?“. Zur Ausgabe geht es hier.
Inhalt dieser Ausgabe:
Schwerpunkt: STELL DIR VOR, ES IST FRIEDEN.
Macho, Memmen und andere Klischees – was Frieden mit Frauen und Männern zu tun hat
von Ute Scheub
[In voller Länge abrufbar unter http://www.soziale-verteidigung.de/uploads/tx_ttproducts/datasheet/Vater_im_Krieg__Mutter_in_Pommerland.pdf]
CODEPINK oder: Der Anti-Drohnen-Kampf der Medea Benjamin
von Katharina Schulz
Vorläufige Anmerkungen zum Fluchtdiskurs 2015/2016 in den Medien – Verengungen, Verschiebungen und Auslassungen
von Margarete Jäger, Regina Wamper und Isolde Aigner
„Das Vaterland nicht im Stich lassen …“ Rosa Luxemburgs Antikriegspolitik
von Frigga Haug
[In voller Länge enthalten in Das Argument (05.02.2015). Abrufbar über www.linksnet.de/de/artikel/32279 ]
Geschlechterkampf und die Militarisierung des Denkens
von Claudia Brunner
„Wir werden nie aufhören, zu träumen“ – Die WIR FRAUEN im Gespräch mit Ayla Akat und Besime Koncy von der Frauendelegation der HDP
von Isolde Aigner und Katharina Volk
Kämpfe um Reproduktion und Gewerkschaftsarbeit
„Austerität ist nur ein modisches Wort für Klassenkrieg“ – Vio.Me und die „Klinik der Solidarität“. Ein Reisebericht aus Thessaloniki
von Melanie Stitz
Projekte
40 Jahre Autonome Frauenhäuser in Köln
zusammengestellt von Gabriele Bischoff
Herstory
Benoîte Groult (1920-2016), Essayistin, Romanautorin, Feministin. Ein Nachruf.
von Florence Hervé
Margarete Jäger: „ich habe ein erstes, zweites, drittes Leben“.
von Isolde Aigner
Bilder des Krieges. Bilder des Leidens. Fotografinnen des Krieges und der Überlebenden
Anja Niedringhaus und Marissa Roth
von Florence Hervé
Gesehen
Ausstellung: Gülsün Karamustafa. Chronographia
von Gabriele Bischoff
Daten und Taten
Françoise Girpoud: Eine freie Frau
Erni Friholt: Global denken, lokal handeln.