Selbstbetimmte Sexualität
Das Bedürfnis nach und die Lust am Sex sind wohl kaum noch als „natürlicher Trieb“ zu denken. Mag es auch ein Sehnen und Drängen geben, das sich irgendwie als „ursprünglich“ begreifen und erfahren lässt – die Ausdrucksformen, die „Spielregeln“, unser Lustempfinden sind nicht zuletzt auch soziale, kulturelle Phänomene. Unsere Familien- und Beziehungsgeschichten sowie unzählige Kulturproduktionen – Literatur, Fernsehen, Musik – lehren uns, was Lust bereiten soll.
Hand aufs Herz: Wie viele von uns haben etwas Übung gebraucht, bis sie Zungenküsse wirklich prickelnd fanden? Und wie viele Klischees zum Thema „Romantik“ oder „Erotik“ können wir auf Anhieb reproduzieren? Dass uns das eine erregt und das andere abtörnt, ist auch das Ergebnis von Konditionierung, Training, harter Arbeit, kurz: der Zurichtung unseres Begehrens. Unserer Lust werden Wege gebahnt und andere verschlossen, Übertretungen werden sanktioniert, verpönt, verspottet. Freud sprach einst vom „polymorph-perversen“ Säugling, der ziemlich alles, was so geht und ihn berührt, alles, was die Körpergrenzen passiert, innere wie äußere Sensationen als lustvoll erleben kann. Schon bald aber wird er auf Linie gebracht, heterosexuell und genital fixiert. Die Zweigeschlechtlichkeit wird durchgesetzt. Das funktioniert subtil, mitunter aber auch sehr handgreiflich. Es ist gängige Praxis, Säuglinge mit mehrdeutiger Geschlechtlichkeit möglichst bald nach der Geburt operativ „anzupassen“. In anderen Worten: Es geht um Kastration, um Beschneidung, um das Verhindern einer Möglichkeit, die offenbar nicht gedacht, geschweige denn gelebt werden darf, weil sie das System ganz fundamental irritieren würde. „Junge oder Mädchen?“ – das ist die erste Frage an jedes Neugeborene. Und später noch müssen wir uns immer wieder identifizieren, vor Türen und auf Fragebögen, als „männlich oder weiblich“.
Dass wir uns überhaupt, ja sogar vorrangig als sexuelle Wesen begreifen, hat eine Geschichte und seinen Nutzen. Die Mehrheit aller Werbespots adressiert uns denn auch direkt und ausschließlich als sexuelle Wesen: Mit dieser Pizza gelingt der romantische Abend; mit der längsten Praline der Welt erobert man(n) die Alien-Fee; der Internet-Provider hat einen Frauennamen, wallendes Haar und große Brüste und sitzt dem User auf dem Schoß; in dieses Auto passen so viele Frauen in kurzen Kleidern, dass die Jungs aus der Nachbarschaft ganz neidisch werden usw. Sex sells.
Asexuelle, unempfängliche Konsumentinnen und Konsumenten – welch ein Alptraum für das kapitalistische System, das ganz entscheidend darauf fußt, Bedürfnisse (vermeintlich) zu befriedigen, die es selbst erst schafft.
Vor diesem Hintergrund haben wir uns gefragt: Gibt es so etwas wie „selbstbestimmten Sex“, Lust und Begehren jenseits von Moral, heterosexueller Zurichtung, kapitalistischer Vermarktung und Verwertung? Was hindert und was ermöglicht es uns, uns sexuell zu realisieren – beim Masturbieren, allein mit uns oder mit anderen, mit einer oder mehreren? Gibt es eigentlich feministischen Sex? Und wie halten wir es mit der Verhütung? Welche kennt noch ihren Zyklus? Wie denken und wie reden wir miteinander oder auch mit unseren Kindern über Sex?
An dieser Stelle wenig hilfreich, aber niemals aus der Mode sind „Gebrauchsanleitungen“ fürs eigene und andere Geschlecht. „Das wollen Frauen wirklich“ – „So machen Sie ihn im Bett glücklich“ – „Hier finden Sie den G-Punkt“. Lust wird in diesem Sinne mechanisch gedacht und als eine Frage richtiger Knöpfe und Hebel, als simpler Zusammenhang von Ursache und Wirkung verstanden. Das erspart den Dialog.
Schwierig ist es mit den Worten, die unsere Körper und unser Erleben beschreiben. Für unsere Vulva haben sich nicht einmal treffende Wörter etabliert, hier kursieren im Alltag und sogar in der Medizin schlicht und ergreifend falsche Bezeichnungen. Begriffe, die in einer langen Tradition von Verleugnung, Desinteresse, Angst und Entwertung stehen.
In der Medizin ist das weibliche Geschlecht – verglichen mit dem männlichen – noch ein dunkler Kontinent. Mehr Geld fließt in medizinische Forschung rund um den Penis: Wie können nach Eingriffen Lust- und Erektionsfähigkeit erhalten werden? Viel unbedachter erfolgen dagegen Eingriffe in das weibliche Genital: Dammschnitte, Gebärmutterentfernung, kosmetische Operation der Labien …
Es ist schon ein paar Jahrzehnte her, dass Frauen gemeinsam ihr Genital betrachteten, Spiegel benutzten und nach Worten suchten. Ein Experiment zum Selbermachen: Offenbar sind noch heute wenige tatsächlich in der Lage, eine Vulva halbwegs korrekt zu zeichnen.
Die Frage nach der Sprache, nach Gesten und Bildern, über die wir Sex, Körper und Begehren reflektieren und uns miteinander austauschen können, hat in der Frauenbewegung eine lange Tradition und ist, so glauben wir, noch immer aktuell.
In dieser Ausgabe untersucht Mithu M. Sanyal, auf welche vielfältigen Weisen die Vulva in unserer Kultur verleugnet oder fehlbenannt wurde und wird. Sie stellt damit einen Auszug aus ihrer Doktorinnenarbeit vor, die demnächst im Wagenbach Verlag erscheint.
Elke Boumans-Ray erzählt von ihren Erfahrungen, mit ihren Kindern über Sexualität zu reden, und Mechthilde Vahsen hat Frauen unterschiedlichen Alters beim Reden über Sex zugehört. Haben sie oder haben sie nicht? – Kerstin Wolff schreibt über die Bedeutung von Frauenliebesbeziehungen in der alten Frauenbewegung.
Ferner hat das Kontrasexuelle Manifest von Béatriz Preciado unser Interesse geweckt. In der kontrasexuellen Praxis begegnen sich nicht „Mann und Frau“, sondern schlicht Subjekte. Sie verweigern sich jeder heterosexistischen Zuschreibung und erarbeiten sich durch aufwändige Übungen auf ihren Körpern neue, andere Lustpunkte und –flächen. Wir danken Stefanie Schäfer-Bossert und der Zeitschrift Schlangenbrut für den Artikel „Drag Kings und andere Lustspiele“ zu diesem Thema.
Melanie Stitz und Gabriele Bischoff
Inhalt dieser Ausgabe
Wer oder was ist die Vulva?
Mithu M. Sanyal bennent „Ungenanntes“
Wann sext Ihr?
Elke Boumans-Ray findet kindgerechte Worte
Mechthilde Vahsen hat nachgefragt
Drag Kings und andere Lustspiele
Stefanie Schäfer-Bossert denkt nach mit Béatriz Prediado
Zum Sex in der alten Frauenbewegung
Kerstin Wolff muss es nicht so genau wissen
Krieg und Frieden
KHANZAD – gegen das Schweigen der Gesellschaft
NATO-Gipfel Rumänien April 2008
Unabhängigkeitserklärung der Lakota
Kolumbien: Entführungen und Verschwindenlassen
Projekte
Business and Professional Women Germany kündigen nationalen Aktionstag für mehr Lohngerechtigkeit an
Kultur
Couch-Politik – Was ist feministisch am Gucken von Fernsehserien?
Kommentar
Du musst brennen …
Herstory
Maria Leitner: „verbrannt und verschollen“
Freiheitskämpferin Eva Forest
Gesehen
„Mondkalb“ von Sylke Enders
Internationales Frauenfilmfestival Dortmund|Köln
Daten und Taten
Tamara de Lempicka, Anja Lundholm
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Korinthe: Bravo-Girl
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Leserinnenbriefe