Hoffnung
Gleich eine ganze Reihe von Revolutionen feiern runde Jubiläen in diesem und bereits im letzten Jahr: die Märzrevolution 1848/49, die Russische Revolution 1917, die Novemberrevolution 1918, das legendäre Jahr 1968 – Ereignisse, um deren Deutung intensiv gerungen wird, und Anlässe für uns, die kommenden vier Ausgaben den Revolutionen zu widmen. Genauer auseinandersetzen wollen wir uns mit der Scham, die überwunden werden muss, um Vereinzelung in Solidarität zu wenden, mit den Folgen von 1968 sowie mit dem Mut und den Aufbrüchen. Zum Auftakt und passend zum Internationalen Frauenkampftag werfen wir in dieser Ausgabe Schlaglichter auf revolutionäre Hoffnungen und was aus ihnen wurde.
Wörtlich genommen heißt Revolution so viel wie Umdrehung oder Zurückwälzung. Erst im 18. Jahrhundert verschob sich unter dem Eindruck der Französischen Revolution die Bedeutung hin zum gewaltsamen politischen Umsturz der Verhältnisse. Kein Stein bleibt auf dem anderen, das Unterste wird nach oben gekehrt. Vor unser inneres Auge treten Bilder von brennenden Barrikaden, Menschenmassen, Fahnen oben auf, Helden und Heroinen in zerrissenen Hemden. Dabei werden erst im Nachgang die Ereignisse im kollektiven Erinnern zu einem einzigen Moment verdichtet und vereindeutigt: der Sturm auf die Bastille, die Erstürmung des Winterpalais…
„Die Revolution ist das Erlebnis eines Ereignisses des Einverständnisses und zugleich millionenfaches Missverständnis“, schreibt Bini Adamczak in ihrem Buch „Beziehungsweise Revolution“: Ganz viele wollen Unterschiedliches gleichzeitig. Auch die Oktoberrevolution verlief nicht „nach Plan“, sondern setzte sich aus vielen unkoordinierten „Mikrorevolutionen“ zusammen, motiviert von „verschiedenen und gegensätzlichen Träumen“.
Revolutionen sind immer auch Möglichkeitsräume und Zeitfenster, in denen vieles plötzlich denkbar ist und machbar erscheint – Zeiten der Hoffnung. Immer wieder erkämpfen, nutzen und gestalten Frauen diese Räume, fordern gleiche Rechte und stellen Geschlechterrollen radikal in Frage. Die Revolutionärin Olympe de Gouges verfasste zwei Jahre nach Beginn der Französischen Revolution die „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin von 1791“ und forderte darin Gleichheit, Freiheit und politische Rechte – auch für Frauen. Sie starb dafür auf dem Schafott. Viele Bürgerrechtlerinnen von 1989 hofften auf und stritten vergeblich für eine gemeinsame deutsche Verfassung, in der das Beste – darunter auch die Frauenrechte – aus zwei Staaten aufgehoben wäre. Auch das ist ein Muster aus vielen Befreiungskämpfen: In militanten Zeiten wird „die Kämpferin“ zur Ikone, zum Symbol für den gerechten Kampf von unten. Kehrt wieder Frieden ein, soll sie bitte an den Herd zurück und das politische Geschäft den männlichen Genossen überlassen. Immer wieder machten (nicht nur) Frauen die Erfahrung: Befreiung gibt es nicht geschenkt, stets muss sie eigenes Werk und selbst erkämpft sein. Auch Dulden ist eine Tat, die verlernt sein will.
Das Danach einer jeden Revolution gestalten Menschen, die zunächst zu einem guten Teil die alten sind – selbst Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse. Das Alte, das bis eben noch funktional war, sitzt tief in unseren Knochen. Es kehrt ein neuer Alltag ein, schon bald so unspektakulär wie die Zeiten der mühsamen Maulwurfsarbeit vor dem Umsturz. Angela Davis erinnerte 2005 in ihrer Rede auf der Luxemburg-Konferenz in Berlin – sinngemäß – daran: Wenn ihr von 1968 sprecht, vergesst nicht, dass nicht alle auf die Straße gingen und wir auch damals nicht die Mehrheit waren. Dennoch haben wir viel bewegt. Denkt daran, dass dieser Aufbruch überhaupt erst möglich wurde aufgrund der jahrelangen Arbeit einer kleinen Minderheit von Menschen, die schon seit den 1950er Jahren im Angesicht von Repression und Zynismus täglich mühsam darum rangen, in winzig kleinen Schritten den Boden dafür zu bereiten, dass eines Tages so etwas wie eine Anti-Kriegsstimmung in den USA überhaupt gedeihen konnte…
PRD – Postrevolutionäre Depression – nennt Bini Adamczak die merkwürdige und oftmals misstrauisch beäugte Traurigkeit nach der Revolution. Sicher, der Aufbau einer neuen Ordnung ist mühsam und konfliktreich, die Ergebnisse sind oft enttäuschend, mitunter schafft postrevolutionärer Terror Anlass für neuen Schmerz. Dennoch fragt Adamczak, warum sich die Sehnsucht der Revolutionäre „nicht auf die kommunistische Zukunft richtete, sondern auf die kriegskommunistische Vergangenheit“: „Was, wenn die Revolutionärinnen an der Revolution nicht hauptsächlich den Kampf begehrten, sondern etwas, das sich lediglich mit dem Kampf verband?“
Sie nimmt 1917 und 1968 in den Blick und sucht nach der ungestillten Sehnsucht, die sich in der PRD artikuliert ebenso wie im Revolutions- oder auch Militanzfetisch. Die Russische Revolution antwortete auf das unfassbare Elend der Massen, Gleichheit stand im Zentrum des Kampfes. 1968 kann dagegen nur verstehen, wer sich die bleiernen Verhältnisse jener Jahre vor Augen führt, die totale Verwaltung des Lebens, die Erstarrung, in die das Individuum sich fügen sollte. Freiheit und Individualität dominierten als Themen. Uneingelöst, zumindest marginal blieb jeweils das dritte Moment: die Geschwisterlichkeit oder auch Solidarität. Sie klingt nach in den Erinnerungen an gegenseitige Achtsamkeit und Fürsorglichkeit, an miteinander geteiltes Brot, Leid und Freude in den kriegerischen Zeiten. Ähnlich wie heutzutage im Polizeikessel – auch das eine Erfahrung, die zusammenschweißt.
Es gab sie immer, jene Unterströmungen zärtlich-solidarischer Genossinnenschaft, doch sie hatten keinen leichten Stand, fanden wenig Gehör und konnten kaum gedeihen – weder im totalitären Autoritarismus (Stalinismus), noch unter Bedingungen absoluter Atomisierung und Bindungslosigkeit (in Folge der neoliberalen Konterrevolution nach 1968). Adamczak regt an, solidarische Beziehungsweisen nicht lediglich als Mittel zum Zwecke des Umsturzes zu begreifen. Sie seien vielmehr als eigentliches Ziel zu verstehen, als Kern einer noch weiter zu entwickelnden Utopie einer Gemeinschaft der vielen, die als Gleiche und Freie in Solidarität miteinander in Beziehung treten. Damit müssen wir nicht warten auf den „großen Tag“ irgendwann, sondern können schon heute beginnen. Wie wollen und können wir miteinander leben? Wie immer hilft historisches Bewusstsein: Welche Erfahrungsschätze sind für diese Suchbewegung in der Geschichte noch zu heben?
Die Pille gilt als Ausdruck und Voraussetzung der sexuellen Revolution und der Frauenbefreiung. Anna Schiff wirft einen kritischen Blick auf diese These. Christiana Puschak erzählt von den Aufbrüchen tanzender Frauen. Die marxistische Philosophin und Frauenrechtlerin Helga Hörz, bis 1990 Hochschullehrerin für Ethik an der Ost-Berliner Humboldt-Universität, bilanziert Hoffnungen und Enttäuschungen nach 1989. Didem Ozan berichtet über die Kämpfe von Frauen in der Türkei. Derzeit reist María de Jesús Patricio Martínez durch Mexiko, um für den Zusammenhalt marginalisierter Gruppen, Selbstorganisierung und Politik von unten zu werben. Sie ist die erste indigene Präsidentschaftskandidatin Mexikos. Wir dokumentieren einen Bericht aus dem Rundbrief vom Informationsbüro Nicaragua. Florence Hervé trägt Lesetipps zum Schwerpunktthema bei. Illustriert wurden die kommenden Seiten von der Künstlerin und Grafik-Designerin Kerstin Müller- Schiel, die von nun an die Wir Frauen gestalten wird. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit!
Von Melanie Stitz
Inhalt dieser Ausgabe
Warten auf die reproduktive Freiheit
Von Anna Schiff
„Wenn ich nicht dazu tanzen kann, ist es nicht meine Revolution“
Von Christiana Puschak
Durchsetzung von Frauenrechten in der DDR
Von Helga Hörz
Mut und Proteste von Frauen in der Türkei
Von Didem Ozan
„Für eine Welt, in der viele Welten Platz haben!“
MEINE FEMINISTISCHE WAHRHEIT
Selbstgewiss und radikal
Von Charlotte Wiedemann
ANDERE LÄNDER
Klimapolitik braucht Geschlechtergerechtigkeit!
Ein Gastbeitrag von Johanna Hausmann
KRIEG UND FRIEDEN
Schöne „normale“ Welt. Silvester 2017 in Köln
Von Isolde Aigner
HERSTORY
Erinnerungen bewahren: My Two Polish Loves
Von Mareike Lütge
PROJEKTE
Lesben, hört die Signale – Lesbenfrühling 2018
WHO CARES?! REVOLUTION
Sorge ins Zentrum einer Alternative zum Kapitalismus
Autor_innenkollektiv Werkstatt care Revolution
KULTUR
Die Vulva– Organ und Kunstwerk zugleich
Von Kathrin Schultz
Die Fangirls schlagen zurück!
Von Carolin Rolf
GESEHEN
„Señora Teresas Aufbruch in ein neues Leben“
Von Gudrun Lukasz-Aden und christel Strobel
Dokumentation „Töchter des Aufbruchs“
Internationales Frauenfi lmfestivals Dortmund | Köln
DATEN UND TATEN
Renée Sintenis / Malalai Joya