Gesundheit!

Auf die Frage, was wir uns wünschen, fällt uns oft als Erstes ein: Gesundheit! Das ist häufig das Wichtigste. In der WIR FRAUEN-Ausgabe vom Sommer 2002 haben wir uns vor allem mit dem Gesundheitsmarkt beschäftigt.
Der Druck, sich gesund zu ernähren und gesund zu leben, hat immens zugenommen. Die Eigenverantwortung spielt eine große Rolle: FettesserInnen und RaucherInnen sind doch selbst schuld, wenn sie krank werden. Sollen Extremsportlerinnen die Behandlung selbst zahlen, wenn sie nicht aufgepasst haben? Diskutiert wird, ob ÄrztInnen zukünftig „selbstverschuldete“ Komplikationen durch Piercings und andere modische Torheiten der Krankenkasse melden, damit die Kosten nicht von der Allgemeinheit gezahlt werden. Wehret den Anfängen?!
Neben den vielen Rollen, die wir mittlerweile haben, sollen wir uns auch fachmenschlich mit der Gesundheit beschäftigen. Denn: Wer krankt wird, ist es selbst schuld, oder? Bei dem Vitaminmarkt, den ganzen Beratungsregalen, den Aufklärungssendungen, der Wellnessbewegung, jaja, nur ein Buch lesen im Urlaub, das war gestern. Heute wird massiert, gesaunt, gekneipt und gewellnesst, damit wir fit und nicht nur gut erholt an den Arbeitsplatz zurückkehren. Ganz zu schweigen von dem Druck, vor der Arbeit eine Runde zu schwimmen oder in der Mittagspause im Park zu laufen, um dem Stress und den „freien Radikalen“ zu entgehen. Und das möglichst ein Leben lang, damit das Leben auch „lang“ wird.
Seit 30 Jahren geht die Frauengesundheitsbewegung von der Selbstbestimmung über den eigenen Körper aus. Sie fordert eine Medizin, die geschlechtsspezifischen Unterschieden gerecht wird und gleichzeitig Stereotypen und normierte Körperwerte hinterfragt. Eingeflossen sind diese Grundgedanken in die Ergebnisse der Enquetekommission „Zukunft einer frauengerechten Gesundheitsversorgung in Nordrhein-Westfalen“ von 2004 und die Koordinationsstelle Frauen und Gesundheit NRW, bevor die Koordinationsstelle im März 2006 die Arbeit einstellen musste, weil die Landesmittel gestrichen wurden. Sie haben Missstände im Gesundheitssystem aufgezeigt und konkrete Forderungen formuliert, die nach wie vor Gültigkeit haben.
Im Gesundheitsbereich wurden und werden Fraueninteressen schnell instrumentalisiert, aus vermeintlichen Fraueninteressen werden Wirtschaftsinteressen. Mit der aktuell viel beworbenen und diskutierten HPV-Impfung von Mädchen vor der Pubertät, die Gebärmutterhalskrebs vorbeugen will, hat sich Mechthilde Vahsen beschäftigt. Auch die flächendeckende Mammographie-Untersuchung von Frauen über 50 zur Früherkennung von Brustkrebs ist ein Beispiel – Segen oder Pathologisierung??
Interessanterweise zahlen Krankenkassen noch keine FSME-Zeckenimpfung, obwohl es Untersuchungen gibt, dass Zecken mittlerweile flächendeckend in Wald- und Parkanlagen vorhanden sind. Doch das Hauptproblem unseres Gesundheitssystems scheint im Moment eher die Impfmüdigkeit der Bevölkerung zu sein, siehe Masernepidemie an Schulen im Rheinland.
Gerade die Debatten zum Thema Masernimpfung haben gezeigt, wie viele Vorbehalte gegenüber alternativen Naturheilverfahren vorhanden sind. Für eine zunehmende Zahl von Menschen stellen anthroposophische, homöopathische und naturheilkundliche Medizin und Naturheilkunde in vielen Bereichen der gesundheitlichen Versorgung eine wichtige Behandlungsalternative oder -ergänzung zur sogenannten Schulmedizin dar. Insbesondere die homöopathische Prophylaxe und Naturheilverfahren genießen breites Vertrauen quer durch alle Bevölkerungsgruppen. Allerdings gibt es in Deutschland nur einen einzigen Lehrstuhl für Naturheilkunde, nämlich an der Universitätsklinik Essen, einer Modell-Einrichtung für Naturheilkunde und Integrative Medizin.
Dabei fällt mir auf, dass ich für Empfehlungen von Freundinnen bezüglich alternativer Behandlungen eher empfänglich bin. Spontan fällt mir Cranberry-Saft sein, der nicht nur bei Harnwegsinfektionen (also Blasenentzündung u. Ä.) helfen soll. Aber wenn ich dann sehe, dass für Cranberry-Saft in ‚Journalen für Frauengesundheit’ geworben wird, werde ich sofort misstrauisch. Überhaupt: Sollten wir nicht froh sein, dass nun nicht mehr so viele Antibiotika-Hämmer verschrieben werden und selbst Betriebskrankenkassen wie die der Deutschen Bank Empfehlungen aus der Frauengesundheitsbewegung aufnehmen?
Ja und Nein. In Zeiten und Systemen, in denen Gesundheit vor allem ein wirtschaftliches Gut ist, müssen wir kritisch bleiben. Selbst der „SPD-Gesundheitsexperte“ Karl Lauterbach erkennt mittlerweile, dass die privilegierten Privatversicherten einmal mehr durch die gesetzlich Krankenversicherten subventioniert werden: „Die gesetzlich Versicherten zahlen den Beitragssatz, den Sonderbeitrag und demnächst zusätzlich kleine Kopfpauschalen, um die Kosten des Solidarsystems zu schultern. Privat Versicherte hingegen zahlen nicht für Einkommensschwache, für die Masse der Arbeitslosen, Behinderten und chronisch Kranken. Geringe Kosten, maximale Leistung: Privat Versicherte genießen eine deutlich bessere Versorgung, weil sie von den Spezialisten in Klinik und Praxis als die besseren Kunden bevorzugt werden. Für gesetzlich Versicherte hingegen ist es keineswegs selbstverständlich, dass sie als Krebspatient tatsächlich zum ausgewiesenen Experten in einer Universitätsklinik vordringen können. Denn via Gebührenordnung sorgt der Staat dafür, dass es sich für Krankenhäuser und Ärzte stärker rechnet, wenn sie einen Privatpatienten versorgen. Gesetzlich Versicherte werden wie Patienten zweiter Klasse behandelt, obwohl sie fast die gesamte Infrastruktur des Gesundheitssystems finanzieren. Eine einheitliche Gebührenordnung für gesetzlich und privat Versicherte wird jedoch von der privaten Assekuranz und der CDU kategorisch abgelehnt, weil sie die Zweiklassenmedizin gefährden könnte. Bis auf weiteres können gesetzlich Versicherte nur hoffen, dass sie selbst oder ihre Kinder zufällig über ein Beziehungsnetzwerk verfügen, das sie bei schwerwiegenden Krankheiten dann doch noch mit einem Spezialisten in Kontakt bringt.“ (Quelle: TAZ, 26.06.2007)
Und da reden wir noch nicht über unnötige chirurgische Eingriffe wie Brustvergrößerungen, Fettabsaugen und die sog. Intimchirurgie, bei der die Schamlippen von Frauen je nach Wunsch und Geschmack vergrößert bzw. verkleinert werden und das Jungfernhäutchen „korrigiert“ wird. Nebenbei: Monika Gerstendörfer von Lobby für Menschenrechte e.V. mutmaßt, dass Medizinerinnen, die sich auf die Korrektur männlicher Geschlechtsteile „spezialisierten“, früher oder später eingesperrt würden! Vielen Dank an Kerstin Wolff vom Archiv der Deutschen Frauenbewegung in Kassel für die Recherche über historische Pharma-Anzeigen, die unseren Schwerpunkt illustrieren. Sehr viel hat sich an der Darstellung von vermeintlich kranken Frauenkörpern nicht verändert. So werden heute noch Medikamente jeglicher Branche gerne mit „leidenden“ Frauen beworben und geben so dem Vorurteil Nahrung, dass Frauen das kränkere Geschlecht seien.
Anka Struken schaut sich in dieser Ausgabe ‚Mothers little helper’ genauer an, Mareen Peria setzt sich mit Angsterkrankungen auseinander und die besondere Gesundheitssituation von Flüchtlingsfrauen hat Gabriele Bischoff zusammengetragen. Und weil das Thema Gesundheit schier unüber-schaubar ist, haben wir einige wertvolle Links und Hinweise zusammengetragen.
Gabriele Bischoff
Den kompletten Schwerpunkt dieser Ausgabe gibt es hier.
Inhalt dieser Ausgabe
Impfen gegen Krebs
Mechthilde Vahsen untersucht Gebärmutterhalskrebs
Mothers little Helper
Anka Struken schaut sich Pillen genauer an
Wo die Angst ist, da geht´s lang
Mareen Peria setzt sich mit Angststörungen auseinander
Migration
Die Gesundheitssituation von Flüchtlingsfrauen beschäftigt Gabriele Bischoff
Informationen zum Schwerpunkt
Krieg und Frieden
Unsichtbare Fabriken – Peruanische Heimarbeiterinnen
Verschärfung des Zuwanderungs- und Einbürgerungsrechts
Klima-Allianz startet Mobilisierung zum 8. Dezember
Vorbereitung: EFF – Das Europäische Feministische Forum
Ausstellung „Begegnung mit Kuby“
Haftbefehl gegen AktivistInnen der Clean Clothes Campaign
Vorbereitung: 8. Frauenpolitischer Ratschlag in Düsseldorf
Projekte
Ein Stück Zuhause – das ATELIER THEATER
Kultur
Rappen gegen Macker, MCs und Musikhelden
Die Female Hip-Hop-Bewegung schlägt zurück
Mithu Sanyal
Kommentare/Diskussionen
Kräftesammeln: Ein Kongressbericht
Herstory
Gedenkstein für Hedwig Jung-Danielewicz
Allgegenwärtige Simone de Beauvoir
Gesehen
„The Raging Grannies Anti Occupation Club“
„Trade – Willkommen in Amerika“
Daten und Taten
Janis Joplin, Olga Benario
Außerdem
Hexefunk
gelesen
Leserinnenbriefe