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Herbst 3/2024

Füreinander sorgen

Seit jeher skandalisieren Feministinnen, dass die Arbeit der Reproduktion, die lebensentwickelnden Tätigkeiten gering geschätzt und überwiegend von Frauen verrichtet werden, isoliert in den eigenen vier Wänden, wegen ihrer angeblichen besonderen sozialen Befähigung, aus quasi natürlicher Berufung oder weil es sich stets aufs Neue rechnet, dass sie Zuhause bleiben oder zum Familieneinkommen nur „beitragen“. Wer putzt bei wem und hütet wessen Kinder? Dies ist vor allem eine Frage von Geschlecht, Klassenzugehörigkeit und Herkunft/ Nationalität.

Mitunter klingt dieser Befund recht moralisch: Die berufstätige Frau aus der Mittelschicht scheue den Konflikt mit dem Lebenspartner um Fragen der Hausarbeit und realisiere sich – wie egoistisch! – beruflich auf Kosten von Putzfrau und Kindermädchen, entledige sich also ihrer (!?) Pflichten, um „alles haben zu können“. Als wäre dieser Wunsch an sich schon verwerflich. Was ist mit denen, die ihre pflegebedürftigen Angehörigen gut umsorgt wissen wollen, damit allein gelassen sind und deshalb zu AusbeuterInnen werden? Die Geringschätzung der Reproduktion und das herrschende Zeitregime lassen sich allein oder als Kleinfamilie kaum überwinden.

Fotos von Laura Chlebos

In Krisenzeiten treten die alten Widersprüche einmal mehr Zutage. Die Veranstalter_innen der Care-Revolution-Aktionskonferenz im März 2014 beschreiben die Situation wie folgt:

– „Staatliche Dienstleistungen decken nicht den steigenden gesellschaftlichen Bedarf an Bildung und Erziehung, Gesundheit und Pflege: An Kinderbetreuung und schulischer Bildung wird gespart; alte und kranke Menschen werden nicht mehr ausreichend versorgt; Menschen mit Beeinträchtigungen erhalten zu wenig Assistenz. Für die staatliche Subventionierung profitabler Güterproduktion, wie der Automobilindustrie, stehen Milliarden zur Verfügung, ebenso für die Rettung von Privatbanken. In Kindergärten, Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen, Krankenhäusern und Pflegeheimen wird nur ein Bruchteil dessen investiert.

– Trotz Fachkräftemangel stagnieren die Löhne von Erzieherinnen, Pflegekräften und anderen sozialen Berufen; sie sichern oft nicht die eigene Existenz, zumal die Kosten für Wohnraum und die allgemeine Lebensführung permanent steigen. Pflege- und Sorgearbeiten unterliegen einem Rationalisierungsdruck, der zu Überforderung und Erschöpfung führt und zu Lasten der Qualität der geleisteten Arbeit geht.

– Auch in anderen Berufen nehmen Arbeitsverdichtung und Belastungen ständig zu, steigende Stresserkrankungen wie Depression und Burn-Out zeugen davon.

– Außerdem wachsen die Anforderungen der nicht entlohnten Haus- und Sorgearbeit in Familie, Nachbarschaft und Ehrenamt. Für viele Frauen bedeutet das eine enorme Doppelbelastung – zugespitzt gilt dies für Alleinerziehende. Vielen bleibt kaum Zeit zur Selbstsorge. Menschen mit höheren Einkommen können diese Belastungen teils dadurch reduzieren, dass sie Haushalts- und Pflegehilfen für sich und ihre Angehörigen bezahlen. Oft sind es Migrantinnen, die völlig unabgesichert und zu Niedriglöhnen in privaten Haushalten arbeiten und hier extrem ausgebeutet werden. Solche Care-Migrationsketten setzen globale Ungleichheiten nicht nur voraus, sondern auch fort.

– Menschen, die wegen der Erziehung von Kindern, der Pflege von Angehörigen oder aus anderen Gründen, den Anforderungen des Arbeitsmarktes nicht entsprechen können oder wollen, sind nach kurzer Zeit den rigiden Bestimmungen von Hartz-IV unterworfen.“

Zahlreiche Gruppen, u.a. aus gewerkschaftlichen, globalisierungskritischen, feministischen und/oder umweltpolitischen Zusammenhängen, Angehörige und professionell Pflegende, Ärzt_innen, Erzieher_innen, Patient_innen, Flüchtlings- und Migrant_inneninitiativen, Sexarbeiter_innen, Menschen mit_ohne Behinderung, Bildungsträger und linke Gruppen unterstützen die Konferenz.

Zentrale Fragen werden sein: Was muss sich ändern? Wie können die verschiedenen Kämpfe besser vernetzt werden?

Es gibt konkrete Forderungen, die das System in Gänze nicht in Frage stellen, aber dennoch, als Nahziele, hier und heute auf die Agenda gehören – sofern die Utopie als Fernziel nicht aus dem Blick gerät. Der Kapitalismus ist schließlich flexibel. Es geht ja auch grüner: ein bisschen mehr Bio im Joghurt, eine Prise mehr Nachhaltigkeit, ein gelber Punkt auf dem Plastikmüll, die Preise um ein paar Cent fairer. Am Ende muss aber auch das grünste und sozialste Produkt konkurrenzfähig sein. Öko-Bäuer_innen und Produktionsgenossenschaften wissen davon ein Lied zu singen. Das Programm der „Green economy“ zielt per Definition auf wirtschaftliche Profitabilität und gilt als „Neues Wirtschaftswunder“. Eine andere Lebensweise bedingt das noch nicht.

Warum also nicht auch ein wenig mehr „Care“: etwas mehr Zeit (nur) für Eltern, 150 € Betreuungsgeld, ein paar Krippenplätze mehr? Bereitwillig werden Aspekte der Care-Debatte von konservativer Seite aufgenommen. Familienpolitik sei im Kern immer auch Wirtschaftspolitik, so Gabriele Winker, Initiatorin der Konferenz. Sie ziele keineswegs darauf, die drängenden Fragen sozialer Reproduktion zu lösen, vielmehr gehe es stets darum, die Erwerbstätigkeit von Frauen zu fördern. „Die bundesdeutsche Familienpolitik (…) unterstützt Care nur dort, wo dies dem Wirtschaftswachstum zuträglich ist und möglichst wenig kostet“, so Winker.

Kein Wunder, dass Care-Work für alte Menschen besonders gering geachtet werde und Alte generell zum „Problem“ gemacht werden. Als wäre es unsozial, „auf Kosten der Jüngeren“ alt zu werden.

Frigga Haug gibt zu bedenken, der Standpunkt der „Care-Ökonomie“ sei „nicht der einer befreiten Gesellschaft, in der alle nach ihren Fähigkeiten füreinander tätig sind, sondern der Standpunkt einer innerkapitalistischen Reformpolitik“.

Kritisch setzt sie sich mit dem „Care“-Begriff auseinander, ihres Erachtens „ein Schmelztiegel ganz unterschiedlicher Bedeutungen.“ Sie schlägt vor, lieber vom „Füreinandersorgen“ zu sprechen und für die „sozialen Garantien des Lebens“ und eine andere Zeitverteilung zu streiten.

Winker plädiert für eine gesellschaftliche Mobilsierung von unten. Es brauche Räume, um Erfahrungen zu reflektieren, um zu verstehen, dass Nöte und Wünsche keine individuellen Angelegenheiten, „sondern auf strukturelle, veränderbare Bedingungen zurückzuführen sind.“ Bezugnehmend auf Haugs „Vier-in-Einem-Perspektive“ fordert sie Muße und Zeit für das ganze Leben, so auch für zivilgesellschaftliches Engagement. Es brauche eine von allen geführte Debatte in neuen partizipativ-demokratischen Formen, um über die Ziele und Prinzipien einer Wirtschaftsweise zu verhandeln, die sich nicht länger am Profit, sondern an der Verwirklichung menschlicher Lebensinteressen und an grundlegenden Bedürfnissen orientiert. Welche das sind, darüber wäre zu streiten: Subsistenz, Schutz, Zuwendung, Verständnis im Sinne von Verstehen, Partizipation, Muße, Kreativität, Identität, Freiheit…?

All das – für alle – wird im Kapitalismus wohl kaum zu machen sein. In diesem Heft erinnert Mareen Heying an die Debatte um „Lohn für Hausarbeit“. Nicole Kühn beschreibt globale Versorgungsketten. Isolde Aigner fragte Tove Soiland, was gegen die Prekarisierung von Care-Arbeit getan werden könne. Und Katharina Volk berichtet über lehrreiche und widersprüchliche Entwicklungen auf dem Lande, zwischen Patriarchat und kollektiver Lebensweise.q

Melanie Stitz

Quellen
– Gabriele Winker: „Soziale Reproduktion in der Krise – Care Revolution als Perspektive“
– Frigga Haug: „Das Care-Syndrom. Ohne Geschichte hat die Frauenbewegung keine Perspektive“
beide aus: Das Argument 292 / Hamburg 2011, S. 333-364.

Inhalt dieser Ausgabe

Lohn für Hausarbeit

Von Mareen Heying

Geschlechterverhältnisse im ländlichen Raum

Von Katharina Volk

„Ein Auto kann man stehen lassen, wenn Feierabend ist, aber nicht ein Kind, das nicht abgeholt wird.“

Isolde Aigner im Gespräch mit der Historikerin Tove Soiland

Global Care Chain – Eine Schattenseite des neoliberalen Feminismus?

Von Nicole Kühn

„Ausbeutung ist ein hässliches Wort“

Aus Ausgabe 4/2012

„Yes, we care“ – Alte und neue Herausforderungen rund um die Sorgearbeit

Aus Ausgabe 1/2010

Meine feminstische Wahrheit


Alles schon mal da gewesen? Zur Prostitution in Deutschland

Krieg und Frieden


Clara Zetkin: Brief von 1914

1. Weltkrieg: „Ich bin gegen Krieg, weil ich Feministin bin“

Ausstellung: Frauenfriedensaktionen

Ursula von der Leyen – die Bundeswehr in Afghanistan und die „Attraktivitätsoffensive“ der Europäischen Union

Ungekürzte Fassung

Herstory


Angela Davis: „I’m a black woman revolutionary“

Anja Röhl: „Rückhaltlos subjektiv“

Nachruf Anke Schäfer

Kultur


International Association of Women’s Museums

Gesehen


Internationales Frauenfilmfestival Dortmund|Köln 2014

Daten und Taten


Gabriela Mistral / Florence Hervé

Außerdem

Hexenfunk

Gelesen

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