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Winter 4/2024

Bildungswege – Chancengleichheit

Im März dieses Jahres tadelte UNO-Sonderberichterstatter Vernor Munoz die bundesdeutsche Bildungspolitik. Da Flüchtlinge in Deutschland mit 16 Jahren als volljährig gelten, verlieren sie den besonderen Schutz der UN-Kinderrechtskonvention und haben kein Recht auf Schule und Ausbildung. Dass Kinder von MigrantInnen jede erdenkliche Unterstützung erhalten, Deutsch zu lernen, sollte sich wohl von selbst verstehen. Darüber hinaus, so Munoz, hätten Kinder jedoch ein Recht auf die eigene Muttersprache – auch auf deutschen Schulhöfen. Ferner empfahl er, im Sinne von mehr sozialer Gerechtigkeit, die Betreuung in Kitas und Kindergärten kostenfrei anzubieten. Die frühe Selektion im deutschen Schulsystem sei abzuschaffen, sie verhindere Chancengleichheit.

Damit skizzierte Munoz mögliche Lösungen für ein offensichtliches Problem: In kaum einem anderen Land Europas bestimmt die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht auch Bildungsweg und damit Lebenslauf. Wunderbar polemisch bringt es Wieland Elfferding im FREITAG auf den Punkt: Man problematisiere in diesem Zusammenhang lieber „Ali den Undeutschen“ als „Peter den Pinkel“. Letzterer wurde vermutlich schon pränatal von bildungsbewussten Eltern in Mathematik trainiert, erhält jede erdenkliche Unterstützung, die mit Geld zu kaufen ist, besucht später selbstverständlich Gymnasium und macht ohne Umweg seinen akademischen Abschluss. In Sachen Bildung lässt sich die Herausbildung von Eliten ebenso beobachten wie die einer – dürfen wir es nun beim Namen nennen? – stetig wachsenden Unterschicht. Die einen besuchen später eine jener Exzellenz-Universitäten, die nach dem Motto „der Teufel macht immer auf den größten Haufen“ zukünftig überproportional finanziell gefördert werden. Sie können sich die Studiengebühren auch leisten. Am anderen Ende haben wir die Hauptschüler, die nur mit sehr viel Glück einen Ausbildungsplatz erhalten, so er nicht an einen Gymnasiasten vergeben wurde.

Traurig stimmt, dass wir anscheinend schon mal weiter waren. Da gab es doch einmal eine nennenswerte Lobby für die Integrierte Gesamtschule, ein Projekt mit Verbesserungspotential. Man sah noch die Möglichkeiten des sozialen voneinander und miteinander Lernens. Nun kann die IGS aber nur dann funktionieren, wenn neben Haupt- und RealschülerInnen auch mindestens ein Drittel GymnasiastInnen die Schule besuchen. Heute hat man die begabteren Kinder als bedrohte Spezies entdeckt, die vor den langsamer Lernenden oder jenen, die von einem anderen Punkt aus starten, geschützt werden müssen. Vielleicht waren Eltern damals noch nicht so in Sorge um die berufliche Zukunft ihrer Sprösslinge. Apropos damals: Helke Sander formuliert 1968 in ihrer legendären Rede zum Tomatenwurf einen ungeheuerlichen Gedanken: Kitas und Schulen sollen Kinder auf den Ernst des Lebens vorbereiten, soll heißen, sie eben gerade nicht kompatibel machen, verhindern dass sie ökonomisch reibungslos verwertet werden können.

Und in Sachen Integration? Noch bis zum Ende der 90er Jahre setzten Eltern und LehrerInnen große Hoffnungen in das sogenannte „Kreuzberger Modell“. Im Rahmen einer zweisprachigen Erziehung wurde das Türkische aufgewertet. An den Modellschulen profitierten deutsch- wie türkischsprachige Kinder, gewannen an Sprachkompetenz, konnten sich in zwei Sprachen begegnen. Ein wichtiger Schritt hin zu mehr gegenseitiger Anerkennung. Stattdessen wird allen, die nicht Deutsch sprechen mangelnder Integrationswillen unterstellt, dem –im hessischen Extremfall- mittels Köhlerportraits und Bundesflagge im Kindergarten schon noch beizukommen sei. In der Diskussion um Bildung und Integration geht es immer auch darum, was Leitkultur und Kanon zu sein habe und was eben nicht der Rede und nicht des Wissens wert sei. Dazu passt die Einführung technisierter Leistungsbeurteilungen. An die Stelle mühsamer Auseinandersetzung um Nutzen und Qualität von Bildung treten vermeintlich eindeutige Punktwerte. Um flächendeckend zügig ausgewertet und vergleichbar sein zu können, müssen die Antworten eindeutig und prägnant ausfallen. Setzt sich diese Idee durch, dann gilt als Bildung vielleicht bald nur noch das, was im Multiple-Choice-Verfahren testbar ist. Unzusammenhängendes Faktenwissen, wie es bei „Wer wird Millionär“ abgefragt wird, und Lernen für den Ankreuztest sind die Folge.

In der Bildungsdiskussion geht es auch darum, zu definieren, welche Schlüsselfertigkeiten gewollt sind. Überspitzt formuliert: besser Englisch sprechen für den späteren Job im Human Ressource Management, als Consultant, Office Manager oder Call Center Agent statt Türkisch sprechen mit den NachbarInnen. Besser ungebunden, belastbar und mobil statt verwurzelt, bedachtsam und kritisch.

Was wurde eigentlich aus all den Frauen, die sich aufmachten zum beschwerlichen Marsch durch die Institutionen, so auch den Unis? In ihrem Buch „Dissidente Partizipation“ (Frankfurt 2005) kommt Sabine Hark zu dem Schluss, dass nach wie vor männliche Wissenschaftler das Allgemeine der jeweiligen Disziplin untersuchen und lehren, Frauen- und Geschlechterforscherinnen den „Sonderfall“ Geschlecht. Frauenforschung scheint den universitären Diskurs nicht ernsthaft zu erschüttern. Viel moderner und weniger offensiv heiße es denn heute auch Genderforschung statt Feminismus, so Hilal Sezgin in ihrem Artikel „Geduldet, aber nicht anerkannt“ in der TAZ (12./13.8.06). Feminismus gelte wohl an den Unis – wie auch in anderen Teilen der Gesellschaft – als veraltet.

Dazu erdreisten sich die Jungakademiker wieder, reine Männer-Vorstände in den hochschulpolitischen Allgemeinen Studierenden-Ausschüssen zu wählen, der die gesamte Studierendenschaft vertreten soll. So geschehen im Sommersemester der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Nicht mal eine weiche Quotierung wird derzeit ansatzweise durch die neue AStA-Vorstands-Koalition versucht. Alle Schlüsselpositionen der Verfassten Studierendenschaft in Düsseldorf werden derzeit durch Männer gehalten.

Die in den 70er Jahren auch an den Hochschulen von Frauen erkämpften emanzipatorischen Fortschritte sind durch solche Aktionen gefährdet. Nach wie vor ist die paritätische Besetzung von Ämtern ein Ausdruck der Gleichberechtigung der Frau. So war beispielsweise die aktuelle Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Kerstin Griese (SPD), vor über 15 Jahren noch jüngste AStA-Vorsitzende an der Heine-Universität in Düsseldorf und hat dort gelernt, wie frau Politik gestaltet.

Trotzdem die aktuelle Frauengeneration eine hervorragende Ausbildung (Schul- und Studienabschlüsse) hat, nehmen die Einladungen – auch von politischen Stiftungen – zu Fachtagen und Workshops wieder zu, wo vor allem Männer als Fachleute und Referenten auf dem Podium sitzen und gehört werden.

Und da enden Artikel über versierte Politikerinnen schon einmal mit dem besorgten Hinweis: „Sollte sie den Job antreten, dürfte die verheiratete Mutter eines Sohnes noch weniger Zeit für ihre Familie haben.“ So geschehen in einem taz-Portrait über die Juristin und Umweltexpertin Meglena Kuneva, die bei Studienaufenthalten in Finnland, den USA und Großbritannien internationale Erfahrung gesammelt hat. 2001 wurde sie Vizeaußenministerin und Chefunterhändlerin Bulgariens bei der EU. Zur Zeit wird die 49-jährige für den Posten eines EU-Kommissars gehandelt. Frauen brauchen solche Vorbilder für ihren Lebenslauf. Wir müssen den Männerbünden weiterhin Frauennetze entgegenstellen.

Auf den folgenden Seiten analysiert Frauke Grieger die Bildungschancen von Mädchen aus historischer Perspektive. Warum es so wenige Professorinnen gibt, untersucht Sonja Klümper in ihrem Artikel. 250 Jahre ist es her, dass mit Dorothea Christiana Erxleben die erste Frau in Deutschland promovierte. Cristina Fischer berichtet von einer Tagung zu diesem Anlass, auf der die Situation von Frauen in medizinischer Forschung, Lehre und beruflicher Praxis diskutiert wurde. Sonja Vieten befasst sich mit Fakten und Vorurteilen rund um Integration und Lebensentwürfe muslimischer Mädchen. Einen großen Bogen schlägt Mithu M. Sanyal zu den Ursprüngen und Effekten unseres Alphabets – eines wirkungsvollen Machtinstruments und der Eintrittskarte in unsere Kultur.

Illustriert ist der Schwerpunkt mit Fotos aus dem Wandkalender „Frauen am Werk 2007“, der über www.frauenamwerk.de bei Ulrike Rossa bestellt werden kann.

 

Inhalt dieser Ausgabe

Sag mir, wo sind all die Studentinnen hin …

Gerade mal jede zehnte Professur in Deutschland ist mit einer Frau besetzt

Sonja Klümper

Bildungschancen von Mädchen von 1900 bis heute

Frauke Grieger

Blind für reale Benachteiligungen?

Auf den Spuren von Dorothea Christiana Erxleben: Ergebnisse einer Tagung der Magdeburger Universität zur Situation von Äzrtinnen gestern und heute

Cristina Fischer

A, B, … oops!

Der Alphabet-Effekt von den Hieroglyphen bis heute

Mithu M. Sanyal

„Unter´m Kopftuch viel Neues!“

Junge Musliminnen sind zielstrebig, gebildet und emanzipiert

Sonja Vieten

Infos zum Schwerpunkt

 

Krieg und Frieden


Forderung nach einem europäischen Frauensicherheitsrat

Aufruf zu einer Europakonferenz als Beginn eines „europäischen Staffellaufes“ für Entmilitarisierung und Gleichberechtigung

Mahnmal für 2.000 getötete Journalistinnen eröffnet

Kolumbien: Rechtsanwältin des Jugendnetzwerks „red juvenil“ in Medellín verhaftet

Initiative für eine gesetzliche Friedenssteuer-Regelung

Afghanistan: Frauenbeauftragte erschossen

 

Kultur


Sex, Lügen und Weiblichkeitsmythen

Im Gespräch mit der indischen Skandalautorin Shobhaa De

Mithu M. Sanyal

Verwundet vom Westen

Ein Gespräch mit der Booker-Preisträgerin Kiran Desai

Mithu M. Sanyal


Ist die Frauenbewegung Schuld am Bevölkerungsrückgang?

Glosse

Kerstin Wolff

„Für eine neue Welt!“

7. Frauenpolitischer Ratschlag schlägt Weltfrauenkonferenz in Venezuela vor

Kultur

Daten und Taten

Marie Jahoda und Margareta von Wrangell

Ulrike Müller, Mechthilde Vahsen

 

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