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Winter 4/2024

„Die Krise ist in jedem Kopf!“

Post-Demokratie in Italien

Der italienische Ministerpräsident Mario Monti ist seit November 2011 im Amt, nachdem am 12. November Mediendiktator Silvio Berlusconi seinen Rücktritt erklärt hatte. Zuvor wurde von US-amerikanischen Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit Italiens heruntergestuft. Statt das Parlament aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen, setzte Staatschef Napolitano den vermeintlich parteineutralen Wirtschaftsprofessor Monti ins Amt, um die technokratische Regierung zu leiten.

Was nach Montis Amtsantritt folgte, war ein heftiger Sparkurs. Bis im April 2013 neue Parlamentswahlen anstehen, wird dieser fortgesetzt werden (und vermutlich auch danach). Sozialabbau und Beschneidung der Rechte Lohnabhängiger treffen die am stärksten, die sowieso schon die Schwächsten des Landes sind.

12,8 % der Italiener_innen über 65 leben in Armut, viele Menschen verzichten auf medizinische Leistungen, sie können sie nicht bezahlen. Zwar besteht eine öffentliche, durch Steuern finanzierte Gesundheitsversorgung, also eine kostenlose Grundversorgung für alle Bürger_innen, aber es gibt z. B. kaum staatliche Unterstützung bei der Pflege alter Menschen. „Das ist nur ein Problem dieses Staates. Es wird noch immer erwartet, dass die erstgeborene Tochter sich um ihre kranken Eltern kümmert“, beklagt Angela Balzano.

Die 27-Jährige promoviert derzeit in Philosophie an der Universität von Bologna. Sie erhält ein staatliches Stipendium für die Dauer von drei Jahren. In dieser Zeit darf sie nicht schwanger werden, sonst wird die Zahlung eingestellt.

Dabei hat sie trotz Stipendium de facto nur am Abend Zeit, sich um ihr Promotionsvorhaben zu kümmern, denn tagsüber arbeitet sie unbezahlt für ihre Professorin, wie andere Doktorand_innen mit einem staatlichen „Stipendium“. Denn viele Stellen an den Universitäten wurden gestrichen, keine neuen geschaffen. Dass nach einem erfolgreich absolvierten Studium ein Job folgt, ist die Ausnahme.

„Keine Partei im Parlament erhebt die Stimme gegen Kürzungen im Bildungssystem, es sind sich alle einig, da wird nicht mehr diskutiert“, so Angela. Denn eine starke linke Partei gibt es nicht, die Parteienlandschaft ist alles andere als ausgeglichen. Aufgrund einer Wahlrechtsreform Berlusconis im Jahr 2006 schaffen es kleine Parteien nicht mehr, ins Parlament einzuziehen. „Ein großes Geschenk, das er uns gemacht hat“, sagt die angehende Doktorin ironisch, „in den 15 Jahren Berlusconis wurden keine Bestimmungen festgehalten, sie wurden einfach durchgesetzt, ohne sie niederzuschreiben. Das war keine demokratische Regierung.“

Und heute? „Monti wirkt demokratischer“, was laut Angela ein Problem ist, denn: „Es ist ein Fakt, dass die Italiener_innen diesen Wechsel noch nicht verdaut haben. Es gab diesen Moment, in dem Berlusconi einfach gehen musste.“ Aber niemand aus den linken oder den kommunistischen Parteien war bereit für diesen Wechsel und gewappnet mit neuen Ideen. Dieses „Europa der Banken“, wie es Angela nennt, wünschte sich eine Person, die es schafft, die technokratische Regierung zu leiten und öffentlich zu rechtfertigen. Darum seien viele Personen in Italien für Monti, denn er hat studiert, macht keine Party-Schlagzeilen und wirkt seriös.

Über die negativen Auswirkungen seiner Reformen berichten die Zeitungen in ihrer je eigenen Weise. La Repubblica, eine der Zeitungen, die nicht Berlusconi gehört, steht hinter Monti. Die einzige unabhängige Zeitschrift, Il Manifesto, ist aufgrund der Krise geschrumpft und zugleich teurer geworden. Politischer Widerstand gegen die aktuelle Situation regt sich kaum, es ist schwierig, sich mit Hilfe der vorhandenen Medien gut zu informieren.

„Die Krise ist in jedem Kopf!“, sagt Stefania Voli. Auch sie wohnt wie Angela in Bologna. „Wohlfahrt existiert auch in Italien; aber unsere Wohlfahrt ist die Familie“, beschreibt sie die aktuelle Situation. „Aber wenn du keine Familie hast, dann hast du ein Problem.“

Ohne die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern könnte die 32-Jährige nicht verreisen, nicht alleine wohnen und kein Auto haben, das sie braucht, um zur Arbeit zu kommen. „Meine Eltern bezahlen oft auch die Nebenkosten und Arztbesuche. Ohne meine Familie bin ich arm. Aber das bin nicht nur ich, das sind wir alle!“

Und so wird ihrer Ansicht nach auch die Zukunft funktionieren. „Früher hatten wir dieses System auch, da unsere Kultur sehr familiär ist, heute müssen wir mit diesem System leben.“ Autonomie und Unabhängigkeit haben die Arbeitnehmer_innen damit nicht. „Das ist ein Problem, ja. Aber es geht nicht anders. Es ist mir auch nicht möglich, Geld anzusparen.“

Stefania könnte ihren Arbeitsplatz wechseln, um mehr zu verdienen, aber ihre Arbeit macht ihr Spaß; sie arbeitet in einer Kooperative mit Migrantinnen und hilft diesen bei ihrer Integration und Emanzipation.

„Viele junge Leute gehen weg, da die Situation so schwierig ist, aber ich möchte mein Leben hier nicht aufgeben.“ Eine Bekannte von ihr, eine Anwältin, musste zwei Wochen nach der Entbindung wieder voll arbeiten; sie brauchte das Geld zum Leben. Eine staatliche Unterstützung für Mütter existiert nicht. In einigen Betrieben müssen Frauen vor Einstellungsbeginn sogar ein Formular unterschreiben, in dem sie sich damit einverstanden erklären, die Arbeit im Fall einer Schwangerschaft aufzugeben – die Firma muss dann nicht für eine Person zahlen, die nicht anwesend ist.

Laut Adoc, einem italienischen Verein zur Verteidigung und Beratung von Konsument_innen, sind die Preise für Lebensmittel im Mai diesen Jahres um 4,3 % gestiegen. Die Lebenshaltungskosten lägen demnach aktuell 2 % über dem europäischen Durchschnitt. Für Produkte des täglichen Bedarfs gehen 8 % des Verdienstes drauf. Dabei verdient die/der durchschnittliche Italiener_in 1.300 Euro im Monat, nach Abzug der Steuern (während für die gleiche Arbeit in Deutschland und England mehr als 2.500 Euro gezahlt werden). Die Kaltmiete für ein Einzimmerappartement in der Mailänder Innenstadt kann durchaus mit der Miete einer Dreizimmerwohnung in Berlin-Mitte mithalten. Die Nebenkosten übersteigen die Kosten in Deutschland zum Teil um das Doppelte und die Lebensmittelpreise sind in jedem Bereich höher.

Eine Folge davon ist, dass die Anzahl der Personen steigt, die in Städten wohnen und ihr eigenes Obst und Gemüse anpflanzen. „Vor allem bei Menschen in unserem Alter“, bekräftigt die 27-jährige Angela. Auch steigt die Anzahl der Geschäfte, die Gold ankaufen. Laut Adoc ist in diesem Jahr die Anzahl dieser Betriebe um 15 % gestiegen, 20 % mehr Menschen verkaufen ihr Gold. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 36,2 %; damit liegt Italien knapp hinter Portugal. In den letzten fünf Jahren hat sich diese Zahl fast verdoppelt. Der Anteil junger Frauen zwischen 15 und 24 ohne Arbeit ist je nach Region um 3–5 % höher. Immer wieder titeln italienische Zeitungen, Menschen würden sich zunehmend aus Verzweiflung über ihre eigene wirtschaftliche Situation und die Krise umbringen. Der Psychoanalytiker Luciano Casolari zweifelt diesen Zusammenhang an.

Für ihn ist nicht die ökonomische Situation einer Person der Grund für einen Selbstmord, sondern ein auslösender Faktor. Andere Analytiker_innen behaupten das Gegenteil. Angela kritisiert, dass in Suizid-Statistiken selten ein Grund genannt wird. „Die Statistiken sind seit 10 Jahren die gleichen, aber dass eine ökonomische Verzweiflung in Italien herrscht, ist offensichtlich.“

Die Opfer, über die berichtet wird, sind fast ausschließlich Männer zwischen 40 und 55 Jahren, laut Angela zumeist „Selfmade-Man“ der 1990er Jahre. „Ob die Zahl der Selbstmörder_innen aufgrund der Krise zugenommen hat, ist eine interessante Frage, die ich auch nicht beantworten kann“, bedauert Stefania.

Aber dass es sich meist um Familienväter handelt, gibt auch ihr zu denken. Oft mit einem patriarchalen Männerbild aufgezogen, bedeutet der Verlust der Arbeit für einen Mann einen herben Rückschlag. Nach Casolari könnten Frauen mit einer solchen „Schwäche“ besser umgehen als Männer. Wobei der Verlust eines Arbeitsplatzes in den seltensten Fällen mit einer persönlichen Schwäche zu tun hat. Ein Artikel Casolaris wurde online in einem Block kommentiert mit den Worten: „Mir erscheint es, dass die Selbstmorde von heute durch den Berlusconismus von gestern begründet sind.“

„Wir haben keinen Sozialstaat, kein Basiseinkommen, keine ökonomische Sicherheit für Mutterschaften oder für Arbeitslose, nichts“, beklagt Angela.

Das erleben viele, wie auch Sabrina aus Perugia. Die 22-Jährige hat ihre Ausbildung als Physiotherapeutin abgeschlossen, findet aber keine Anstellung. Sie wohnt noch bei ihren Eltern, die ihren Lebensunterhalt finanzieren, während Sabrina Bewerbungen schreibt, ohne auch nur einen Cent vom Staat zu erhalten.

Wie sehen Stefania und Angela ihre Zukunft? Stefania lässt die Frage offen: „Es wird wohl so weitergehen wie bisher“.

Und Angela fragt: „Welche Zukunft? Wir haben kein Geld, um uns unsere Träume zu verwirklichen. Für mich kaufe ich nichts, mein Geld geht für die laufenden Kosten drauf. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Aufgrund von Einsparungen gibt es z. B. keinen Musikunterricht mehr in der Schule, die Arbeitsbedingungen für Lehrer_innen sind so miserabel, sie wechseln zum Teil jedes Jahr, was sich nicht positiv auf kleine Kinder auswirkt. Kultur ist kaum zu bezahlen, die preiswerteste Theaterkarte kostet 50 Euro. Wie soll denn so ein Land wachsen?“

Mareen Heying