Mädchen(t)räume
A“Generation Praktikum“ oder „Krisenkinder“ – diese Begriffe beschreiben die Lebensrealitäten vieler junger Menschen. Leistungsanforderungen, Arbeitsmarkt, Familienleben – alles ist komplexer geworden. Die Studien Shell-Jugendstudie und die Rheingold-Jugendstudie zeichnen das Bild einer pragmatischen Generation, in der Leistungsbereitschaft und Anpassung auf der einen, Familie und Partnerschaft auf der anderen Seite wichtige Werte darstellen. Unser Schwerpunkt widmet sich dem Thema Mädchen(t)räume (1) und der Frage danach, wo Mädchen und junge Frauen heute stehen. (2)
Utopien – Frieden und weniger Ungleichheit
Im Rahmen des Xenos-Projekts: „Born to be Me – Für Vielfalt und Demokratie“ (3) wurden zwischen 2009 und 2010 in Interviews Utopien und Gesellschaftsentwürfe abgefragt (4). Die meisten der befragten Mädchen und jungen Frauen haben eine Vorstellung von einer anderen/besseren Welt. Eines der herausragenden Themen ist der Wunsch nach „Frieden“, auch „Respekt im Umgang miteinander“ wird mehrmals genannt. In den für die Wir Frauen geführten Interviews zeichnet sich zudem der Wunsch nach mehr Unterstützung für Ärmere und einer Veränderung der finanziellen Ungleichheit ab.
Politisches Interesse – Politik spielt keine große Rolle
Miniatur der HeftseitenNur ein Drittel der befragten Mädchen und jungen Frauen im Rahmen der Shell Studie 2010 bezeichnet sich selbst als „politisch interessiert“. Es gibt zudem einen Vertrauensverlust gegenüber „Parteienpolitik“. Im Rahmen der politisch-pädagogischen Arbeit im Xenos-Projekt zeigen sich ähnliche Beobachtungen. So gibt es kaum Bewusstsein für demokratische und gesellschaftspolitische Prozesse bzw. Wissen über die Partizipationsmöglichkeiten innerhalb dieser Prozesse.
Ängste – Verlust von Sicherheit(en)
Nach Ergebnissen der Shell Studie 2006 haben Mädchen und junge Frauen am meisten Angst vor einem Terroranschlag (76 %), dicht gefolgt vom Arbeitsplatzverlust (74 %). Zu beobachten ist, dass Mädchen und junge Frauen „häufiger ihre Angst artikulieren“ als Jungen und junge Männer.
Bildungssituation – Bildungserfolge und eigene „Rollenerwartungen“
60 Prozent der befragten Schulabschlussabsolventinnen machten nach der Shell Studie 2010 das Abitur, während 51 Prozent der männlichen Befragten das Abi machten. Im Jahr 2002 gaben 53 Prozent der befragten Mädchen und jungen Frauen an, das Abitur gemacht zu haben, eine Tendenz “ nach oben“ ist also sichtbar. Die Soziologin Vera King gibt in der „betrifft Mädchen“ zu bedenken, dass sie „ihre Bildungserfolge im Übergang zum Arbeitsmarkt kaum in entsprechende Statuspositionen, Absicherung und Einkommen umsetzen“. Für King spielen neben den Bildungsabschlüssen auch andere „geschlechterbezogene Selektionsmechanismen“ eine Rolle. Sie fordert deshalb eine differenziertere Betrachtung der Bildungswege, die sich nicht allein auf die Abschlüsse konzentriert, sondern auch darauf, welche „Voraussetzungen für die spätere Berufswahl“ geschaffen werden.
Familiengründung – auf der Suche nach den idealen Voraussetzungen
Die Shell Studie 2010 hat ermittelt, dass 73 Prozent der Mädchen und jungen Frauen den Wunsch nach eigenen Kindern äußern, diese aber an bestimmte Voraussetzungen koppeln: „Vor der Kinderfrage“ wollen Mädchen und junge Frauen in einem sicheren Arbeitsverhältnis stehen, es muss der „richtige Partner“ da sein und darüber hinaus sollte dieser auch in einem sicheren Arbeitsverhältnis stehen. Sie „spüren“, dass die „Folgekosten“ nach wie vor häufig von „ihnen getragen“ werden müssen. Vera King erklärt, dass Berufs- und Ausbildungswünsche von Mädchen und jungen Frauen oftmals unter den Vorzeichen von Vereinbarkeitsfragen stehen. Dies deckt sich mit Aussagen aus Interviews, die im Rahmen des Xenos-Projekts durchgeführt wurden: „also klar möchte ich irgendwann Familie haben, aber ich möchte nicht so dieses ganz typische „Er geht arbeiten – ich mach den Haushalt“. Das soll schon gleichberechtigt sein: Ich geh arbeiten, er hilft mit im Haushalt, beide kümmern sich um die Kinder.“ Die Züricher Wissenschaftlerin Dr. Karin Schwiter hat den Kinderwunsch bei jungen Menschen unterschiedlicher sozialer Milieus in der deutschsprachigen Schweiz untersucht und Ergebnisse in der Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien veröffentlicht. Sie hat die Bedeutung des „passens“ herausgearbeitet und fand heraus, dass der Kinderwunsch von Indikatoren abhängt. Eine stabile Beziehung, eine abgeschlossene Ausbildung, die finanzielle Absicherung, der „Mann“, der ausreichend Geld verdient, um eine Familie zu ernähren – das alles muss „passen“.
Der wichtigste Wert – die Familie
Neben dem großen Wunsch nach einer Familiengründung (Shell Studie 2010) gewinnt auch die sogenannte „Herkunftsfamilie“ weiter an Bedeutung. 75 Prozent der befragten Mädchen gaben an, dass man eine Familie brauche, um glücklich zu sein. Zugleich ist Familie der meist genannte Wert in der Shell Studie 2006 (es folgen Partnerschaft und Eigenverantwortung). Dies deckt sich mit einer Befragung im Xenos-Projekt „Mädchen(t)äume“, bei der 11 von 12 Mädchen die Familie unter den Top 3 ihrer wichtigsten Werte aufführten.
Blinde Flecken – die Grenzen der Jugendstudien
Es ist anzumerken, dass es wenig Erhebungen zu Lebensentwürfen junger Lesben gibt (welche Wünsche, Träume, Utopien haben sie; welche Forderungen stellen sie an Gesellschaft und Politik). Zu nennen ist die Veröffentlichung „Wir wollen’s wissen“ zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen und bisexuellen Jugendlichen in NRW vom Jugendnetzwerk lambda nrw 2005.
Sowohl in der Shell Studie und als auch in der Rheingold-Studie wird entweder gar nicht die Kategorie „Geschlecht“ aufgeführt oder es gibt neben dem Geschlecht keine weiteren Unterteilungen (z. B. Schichtzugehörigkeit, Migration …), die eine differenzierte Analyse der Lebensbedingungen ermöglichen könnte. In der Shell Studie wird die „pragmatische Haltung“ und „Bescheidenheit“ der Jugendlichen positiv bewertet („sie lassen sich nicht unterkriegen“). Andere Interpretationen wie beispielsweise, dass der Pragmatismus als Zeichen der Resignation („ich kann eh nichts ändern“) oder als Resultat gegebener Umstände, die schlichtweg „weder Raum noch Zeit“ für Innehalten lassen, gedeutet werden kann, gibt es nicht. Weder die Shell Studie noch die Rheingold-Studie haben junge Menschen nach ihren Utopien und/oder Gesellschaftsentwürfen oder nach ihrer Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen befragt. Das lässt den Schluss zu, dass ihre Meinung zur Gesellschaft hier als „unrelevant“ bewertet wird. Ferner erscheint es problematisch, ihnen einerseits wenig politisches Interesse zu attestieren, ihnen aber andererseits nicht die Möglichkeit einzuräumen, sich zu gesellschaftspolitischen Themen zu äußern.
Gesellschaftliche Herausforderungen meistern – ambivalente Bewältigungsstrategien
Die Shell Studie 2010 erklärt hierzu, dass gerade Mädchen und junge Frauen eine „stabile Leistungsorientierung“ aufweisen und der „beruflichen Qualifikation“ eine hohe Bedeutung beimessen. Sie zeigen sich wesentlich „motivierter“ als die befragten Jungen und jungen Männer, können sich „besser den Anforderungen an die Leistungsgesellschaft anpassen“. Dem gegenüber steht eine neue Werte-Renaissance, die die Rheingold-Studie nicht zu unrecht als „Biedermeier-Generation“ bezeichnet und die sich u. a. im Wunsch nach einem „sicheren“ Privat- und Familienleben manifestiert. Diese „Ambivalenz“ ist ein gegenwärtiges Schlüsselthema der Mädchen und jungen Frauen: Anpassung an den unsicheren Arbeitsmarkt steht dem Wunsch nach einem durchgeplanten Leben gegenüber.
Das, was sich bei berufstätigen Frauen oft als Doppelbelastung entpuppt, ist hier eine dichotome „Doppelerwartung“, die sowohl von außen als auch von den Mädchen selbst an sie herangetragen wird. Erst wenn die gesellschaftliche Teilhabe an Beruf und Familie geschlechtergerecht gedacht wie verteilt wird, können Mädchen(t)-räume wachsen und ausgefüllt werden.
In unserem Schwerpunkt Mädchen(t)räume wollen wir nicht nur über Mädchen und junge Frauen schreiben, sondern ihnen auch selbst eine Stimme geben. Mareen Heying hat drei lesbische junge Frauen nach ihren Lebensrealitäten und Wünschen befragt. Isolde Aigner hat im Anschluss an ein von ihr begleitetes Projekt Mädchen nach ihren Utopien, Vorbildern und gesellschaftspolitischen Positionen befragt. Außerdem stellen wir die Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenarbeit in NRW und ihre Publikation „Betrifft Mädchen“ vor.
Inhalt dieser Ausgabe
Mädchen(t)räume – Ein Projekt zu Visionen und Träumen
Von Isolde Aigner
Interviews mit vier Mädchen
Aufgenommen beim XENOS-Projekt
Lebensrealitäten und Wünsche junger lesbischer Frauen
Aufgenommen im PULS Düsseldorf
Politisches Interesse und Wahlverhalten junger Frauen
Yvonne Schroth interpretiert die Bundestagswahl 2009
Infos zum Schwerpunkt
Meine feminstische Wahrheit
Debatte zum Prostitutionsgesetz
Krieg und Frieden
Feministische Sozialarbeit in Bolivien
Projekte
Das verborgene Museum
Kultur
100 Jahre CVK – Verein Düsseldorfer Künstlerinnen
Herstory
Gesehen
Trennlinie
Whores´ Glory
Gelesen
Schossgebete von Charlotte Roche
Daten und Taten
Louise Bourgeois / Anna Siemsen
Außerdem
Korinthe: Frauenkalender KOM’MA
Hexenfunk
gelesen
(1) Dieser Titel stammt aus dem gleichnamigen Projekt zu Träumen und Visionen von Mädchen und wurde von der Workshopleitung, der Dipl.Soz.-Päd. Renate Wenning und der Graphikdesignerin und Künstlerin Claudia Ehrentraut, ausgewählt, die ihn wiederum aus Kontexten feministischer Mädchenarbeit adaptierten.
(2) Die Zielgruppe wird im Folgenden immer als „Mädchen und junge Frauen“ bezeichnet, um der relativ weiten Altersspanne (13–Anfang 20) gerecht zu werden.
(3) Das Xenos-Projekt ist am Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus und Neonazismus der Fachhochschule Düsseldorf angesiedelt und widmet sich u. a. der politischen Bildung und Aufklärung junger Menschen (www.born-to-be-me.fh-duesseldorf.de).
(4) Die Interviews wurden von den TheatermacherInnen Raum 13 sowie vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) durchgeführt. Das DISS führt auch die Evaluation durch.