Queer und Gender (re)politisieren!?
Queer und Gender haben als Kampfbegriffe gegen identitäre Zuschreibungen, Biologismen, Geschlechterstereotype und Heteronormativität Karriere gemacht. Wer von Gender spricht, meint Geschlecht als soziale, historisch gewordene Kategorie. Queer bezieht sich auf Identitäten, die in keine Schublade passen wollen, die sich nonkonform und schräg jeder Eindeutigkeit verweigern.
Das sind keine Erfindungen der 1990er Jahre – hier geht es um einen alten Traum des Feminismus: Dass wir einander als Menschen begegnen können, ohne hierarchisch zueinander gestellt zu sein, dass jede_r sich entwickeln und entfalten kann, frei von Zwang und Zuschreibungen. Frigga Haug formuliert in ihrem Vortrag „Feminismus, Sozialismus und Utopie“ (Marburg 2009) dies als feministische Perspektive:
„In ihrer Fixierung auf je ein Geschlecht sind beide Menschen defizitär. Eine sich als feministisch verstehende Utopie setzt daher auf die Abschaffung der „Geschlechter“ wie die sozialistische auf die Abschaffung der Klassen hoffte. Individuell bedeutet das, dass etwa die weiblichen Menschen sich zunächst als Menschen erfahren können, bevor sie sich als Frauen auf andere beziehen; kulturell geht es darum, das gesamte Netz der Vergeschlechtlichung, das unsere Gesellschaften durchzieht, zu zerreißen; und strukturell wäre es an der Zeit, die unterschiedlichen menschlichen Belange, für welche jetzt die einzelnen Geschlechter stehen und die als getrennte Bereiche gewöhnlich wahrgenommen werden, so zusammenzufügen, dass soziale, ökologische, kulturelle menschliche Entwicklung Perspektive ist und nicht unwahrscheinliches Beiprodukt. Dies ist die einzig mögliche und zugleich überlebensnotwendige Veränderungsarbeit, für die es utopischen Denkens bedarf. Daher bezieht Utopie Realität. Sie kann nur aus einem Feminismus formuliert werden, der Widerstand und auf der Suche nach Glück ist.“1
Die herrschenden Arbeitsteilungen, die Produktionsverhältnisse, werden ideologisch aufwendig abgesichert, z. B. mit der Idee der „zwei Geschlechtscharaktere“ oder mit Rassismen und anderen kolonialen Diskursen. So werden z. B. ganze Gruppen „qua Natur“ dazu ausersehen, jene Tätigkeiten zu verrichten, die zwar für unser aller Überleben wesentlich sind, zugleich aber gering geschätzt und wenig bis gar nicht entlohnt werden. Dies betrifft z. B. die Wiederherstellung von Natur und Arbeitskraft, Pflege und Sorge um Menschen, die Arbeit in der Landwirtschaft … Die Trennungen verlaufen zwischen „Mann“ und „Frau“, „Stadt“ und „Land“ (bzw. „Zentrum“ und „Peripherie“) oder „Kopf“ und „Hand“.
Hier könnten wir dekonstruktive Ansätze nutzen. Wir könnten analysieren und skandalisieren, auf welche Weise wir Akteur_innen und Unterworfene dieser Ordnungen sind, wie wir also zu „Subjekten“ werden und welche Rolle „doing gender“ dabei spielt. Dabei gilt es, auch die ökonomischen Bedingungen, die Entwicklung der Produktionsverhältnisse mit zu reflektieren: Die Zukunft gehört dem „Top Girl“ und nicht mehr der Hausfrau mit gestärkter Schürze, wie wir sie aus den 1950er Jahren kennen.
Manche feministischen Kritikerinnen bezweifeln das kritische Potenzial von Gender und Queer in Theorie und Praxis. Allzu lang habe sich queere Kritik allein an kulturellen Fragen abgearbeitet und um Repräsentation und Sichtbarkeit gerungen. In dieser Hinsicht sind die neoliberalen Verhältnisse aber erstaunlich flexibel. Nichts entschärft Konflikte besser als Integration. Neben all den „Werde-ständig-besser/schneller/dünner-Formaten“ ist im Fernsehen ab und an durchaus noch Platz für eine queere Ikone wie Beth Ditto. Tove Soiland begreift Gender selbst als mittlerweile hegemonial gewordene Subjektivierungstechnologie: „Indem es mich glauben macht, ich müsse mich gegen Festschreibungen wehren, lässt das Konzept von Gender mich genau jene Fähigkeiten erwerben, die ich brauche, um die widerstrebendsten, ja sich vielleicht gegenseitig ausschließenden Anforderungen unter einen Hut zu bringen. Mein flexibilisiertes Gender ist zur Schlüsselqualifikation meiner Ware Arbeitskraft geworden. Gender verhält sich zu den Erfordernissen des Neoliberalismus möglicherweise gerade dadurch funktional, weil es verkennt, dass der «Feind» sich längst verändert hat (…).“2
Queer wurde und wird oft dezidiert in Stellung gebracht gegen die „großen Erzählungen“ des Marxismus und gegen die Idee von „Frauen“ als Kollektiv. Queer kritisiert die Ausschlüsse in der sozialistischen und in der Frauenbewegung und die Ignoranz, alle Menschen als männlich und alle Frauen als weiß und heterosexuell zu denken – und diese Blindheit nicht mal zuzugeben. Mit dieser Kritik knüpfen queere Konzepte an feministische (Selbst-)Kritiken an, die schon lange vor den 1990er Jahren diskutiert wurden. Und sich ALS Frau zu emanzipieren schließt durchaus ein, sich auch VOM „Frau-Sein“ zu emanzipieren. Was also ist neu?
Nicht auf einem auf Identität begründeten „Wir“ basiert die queere Bewegung, sondern auf vielen einzelnen „Atomen“, die sich punktuell und kurzfristig zu Bündnissen zusammenfinden, so die Idee. Wenn sich alle Minderheiten zusammentun, gibt es keine „hegemoniale Mehrheit“ mehr. Auch große Teile der Frauenbewegung setzten in ihrer Geschichte immer wieder auf Bündnisse mit anderen sozialen Bewegungen. Was also bedeuten diese Differenzen für die konkrete Praxis?
Tove Soiland kritisiert auch hier das völlige Ausblenden der ökonomischen Verhältnisse. Queer-Konzepte beförderten in der Konsequenz „eine etwas merkwürdig anmutende Feier sexueller Freiheiten, die sich auf das dem liberalen Gedankengut eigentümliche Recht auf Andersheit zu berufen scheint, das sich – infolge der strikten Abstinenz hinsichtlich kollektiver Forderungen – gleichwohl nicht um die materiellen Bedingungen kümmert, unter denen diese Andersheit verwirklicht werden kann.“3
Ist diese Kritik gerechtfertigt?
Immer häufiger sind Queer-Feminismus und Kapitalismuskritik Themen von Kongressen und Publikationen.4 Die Initiator_innen der „Kritischen Tage zum Geschlechterverhältnis“ in Hannover 2010 schreiben in ihrem Aufruf: „Wir sehen die unterschiedlichen Strömungen im Feminismus wie queere Ansätze, feministisch-materialistische oder eher differenzfeministische nicht als einander ausschließende Konzepte. Auf unserem Kongress wollen wir versuchen, die verschiedenen Ansätze über ihre Entstehungsgeschichte zu verstehen, und ausprobieren, sie auf verschiedenen Ebenen anzuwenden. Dabei entstehen im besten Fall Spannungen, die zu Bereicherungen in der Analyse weiterentwickelt werden können.“ Lassen sich Queer-Feminismus und Sozialismus also doch miteinander versöhnen?
Jeder Ansatz, jede isolierte Forderung, die nicht auch einschließt, die Verhältnisse zu ändern, läuft Gefahr, sich gegen uns zu stellen. Viele unserer Konzepte und Forderungen sind deshalb nicht mehr das, was sie mal sein sollten: Aus unserer Forderung nach „Selbstbestimmung“ wurde „Eigenverantwortung“, aus Freiheit volles Risiko, aus dem Kampf um „ein Recht aufs ganze Leben“ ein wenig „Vereinbarkeit“ oder „Work-Life-Balance“. Mit der Quote wollten Feministinnen auch die Welt verändern und nicht nur die Hälfte vom Kuchen erstreiten. Und die Befreiung aus der „Alleinverdiener-Ehe“ mündete für viele in prekäre Beschäftigung zum Mini-Lohn. Gender hat vielerorts feministische Gesellschaftskritik abgelöst – an den Unis, in der Politik, in den Medien.
Wie lassen sich dekonstruktive Ansätze re-politisieren?5 Wie machen sie uns handlungsfähig? Mareen Heying fragt, ob queere und feministische Kritik gemeinsam mehr bewegen kann. Uschi Siemens setzt sich mit dem Buch „Geschlecht – Wider die Natürlichkeit“ von Heinz-Jürgen Voß auseinander, einem Versuch, Queer-Theorie und Marxismus zusammenzubringen. Isolde Aigner und Gabriele Bischoff haben Kritiken an Gender, Queer und Gender Mainstreaming von Rechts bis Links zusammengetragen. Die Autor_innen des Gender-Manifests formulieren Kriterien für eine emanzipatorische Gender-Trainingspraxis und ein Glossar erklärt zentrale Begriffe aus der Debatte.
Melanie Stitz
Inhalt dieser Ausgabe
Definitionen und Kritik
Von links und rechts
Eins, zwei … viele Geschlechter
Uschi Siemens liest Heinz-Jürgen Voß
Gender-Manifest
Plädoyer für eine kritisch reflektierende Praxis
Kooperation von queerer und feministischer Kritik
Mareen Heying sucht Gemeinsamkeiten
Meine feminstische Wahrheit
Statements zur Feigheit der Frauen
Krieg und Frieden
Aus Dakar: So-, so-, solidarité
Aus Tunesien: Fü die Trennung von Staat und Religion
Aus Algerien: Das Netzwerk Wassila
Projekte
Sag´ mir wo die Lesben sind von Elke Amberg
Augspurg-Heymann-Preis an Tanja Walther-Ahrens
Kultur
Birgit Palzkill über Prävention im Sportunterricht
Gesehen
Die Taube auf dem Dach
Shortcut to Justice
Daten und Taten
Rosa Manus / Lydia Rabinowitsch Kempner
Außerdem
Korinthe: Solarenergie
Hexenfunk
gelesen
1 www.vier-in-einem.de/index.php/2009/11/vortrag-feminismus-sozialismus-und-utopie. Dieser und weitere Texte von Frigga Haug unter www.vier-in-einem.de
2 Tove Soiland: Gender-Konzept in der Krise. Die Reprivatisierung des Geschlechts. Der Text ist in der Textsammlung zu den „Kritischen Tagen zum Geschlechterverhältnis“ (Hannover 2010) zu finden. Ferner sind dort online Texte von Roswitha Scholz, Mascha Madörin, Heinz-Jürgen Voss, Melanie Groß, Gabriele Winker, Eske Wollrad und Felicita Reuschling.
3 Queer, flexibel, erfolgreich. Haben dekonstruktive Ansätze den Feminismus entwaffnet? Aus: ak – analyse und kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 558, 18.2.2011.
4 Z. B. Melanie Groß, Gabriele Winker (Hrsg.): Queer-/Feministische Kritiken neoliberaler Verhältnisse. 2007.
5 Vgl. dazu auch Judith Butler, die keineswegs „nur“ einen akademisch relevanten Diskurs pflegt, sondern gleichwohl Krieg, Rassismus und Prekarisierung skandalisiert: Gefährdetes Leben – Politische Essays, Frankfurt am Main 2005.