Logo
Herbst 3/2024

60 Jahre Einführung der Pille

von Annegret Kunde

(aus WIR FRAUEN Heft 2/2021, Schwerpunkt: Körper)

Im Juni vor 60 Jahren brachte die Berliner Schering AG die erste Pille als Verhütungsmittel in der BRD auf den Markt. Schnell entbrannte eine hitzige Diskussion um das Medikament, das zuerst – wie auch in anderen Ländern – als Mittel gegen Menstruationsstörungen beworben und verschrieben wurde. In der BRD blieb die Nachfrage zunächst verhalten und die Pille wurde nur an verheiratete Frauen verschrieben. Es bestand große Skepsis hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen, die vom Contergan-Skandal noch zusätzlich befeuert wurde. Vor allem aber dominierten moralische und religiöse Vorbehalte die Debatte um die „Anti-Baby-Pille“. So lehnte die römisch-katholische Kirche unter Papst Paul VI. die Verwendung von künstlichen Verhütungsmethoden grundsätzlich ab.

Bild: Lupus in Saxonia, +Die Pille – Anovlar – Verhütungsmittel der 60er Jahre – Bild 004, CC BY-SA 4.0

In der DDR präsentierte 1965 der volkseigene Betrieb Jenapharm auf der Leipziger Messe zum ersten Mal die Pille zur Verhütung. Der Name „Wunschkindpille“ in Abgrenzung zur „Anti-Baby-Pille“ war geprägt vom Professor für Sozialhygiene Karl-Heinz Mehlan. Diese positive Bezeichnung entsprach der Essenz der DDR-Familienpolitik zur Förderung der Berufstätigkeit von Frauen und Steigerung von Geburten angesichts der sinkenden Rate in den 1960ern. Ab 1972 war die Pille sogar kostenlos. Medizinerinnen sahen in der Pille ein wichtiges Mittel zur Eindämmung von illegal durchgeführten Abtreibungen und Sexualforscherinnen initiierten eine Aufklärungskampagne, auch um das Thema Sex zu enttabuisieren.

Doch der Absatz des hormonellen Verhütungsmittels stieg erst Ende der 70er Jahre international rasant an und trug so zur sexuellen Revolution und Veränderung der Geschlechterverhältnisse bei. Vor allem für Frauen der Babyboomerinnen-Generation war die Pille alltäglich geworden. Anders als den Generationen zuvor, bot sie mehr Freiheiten, sich (angstfrei) sexuell auszuprobieren – brachte aber auch neue Zwänge aufgrund der sexuellen Verfügbarkeit. Zu den Auswirkungen der Pille für Frauen in Ostdeutschland veröffentlichte die Historikerin Dr. Annette Leo 2015 das Buch „Die ‚Wunschkindpille‘: weibliche Erfahrung und staatliche Geburtenpolitik in der DDR“. Bereits 2010 erschien die Untersuchung von Eva-Maria Silies zu „Liebe, Last und Lust. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960–1980“. Der lange in der Wissenschaft beschriebene sogenannte „Pillenknick“ in Bezug auf zurückgehende Geburtenraten nach der Einführung des Verhütungsmittels ist heute umstritten. Wissenschaftlerinnen sprechen sich dafür aus, dass der Wandel durch die Industrialisierung, steigende Bildung und zunehmende (berufliche) Emanzipation für Frauen zum Geburtenrückgang in Deutschland geführt haben.

In den letzten Jahren sinken die Zahlen für die Nutzung der Pille insbesondere bei den 18- bis 30-Jährigen zugunsten von Kondomen oder anderen Verhütungsmitteln. So meldete die Deutsche Hebammen Zeitschrift im Oktober vergangenen Jahres: „Es ist zwar nicht abzusehen, dass die Antibabypille von anderen Kontrazeptiva gänzlich ersetzt oder vom Markt gedrängt wird, doch ist aufgrund einer zunehmend kritischen Einstellung zu hormonellen Verhütungsmitteln deutlich die Tendenz zu erkennen, dass immer weniger Frauen mit der Pille verhüten.“ Laut Ärzteblatt vom Juli 2020 ist der Anteil der Verordnungen der Pille bei den gesetzlich versicherten Mädchen und Frauen vor allem in den vergangenen vier Jahren stark gesunken auf 31 % (2010 waren es noch 46 %). Junge Frauen würden in Sachen Verhütung insgesamt selbstbestimmte und informierte Entscheidungen treffen, erklärt dazu die Sexualpädagogin Anke Erath im MDR-Interview. Die Pille sei heute kein Symbol mehr für sexuelle Selbstbestimmung.