Logo
Frühjahr 1/2024

Scham

Wenn ich an Scham denke, denke ich an Rot. Die Schamesröte, die einem ins Gesicht steigt; und ich denke ein wenig über das Wort und seine Doppelbedeutung nach. Ich bin bei Menstruationen und Körperlichkeit, bei Metaphern für Gefühlszustände und den sozialen Zusammenhängen, die dieses Gefühl bedingen.
Gefühle sind in sozialen Prozessen erlernt und kaum ein Gefühl macht das so eindringlich deutlich, wie die Scham. Wir schämen uns, wenn wir gegen Normen verstoßen, wenn uns jemand dabei erwischt, wie wir etwas tun, was gegen unsere Überzeugung verstößt, und fühlen uns bloßgestellt, wenn unsere Wissenslücken offenbar werden, und erleben Schock, Trauer und Einsamkeit.

Mit der Doppelbedeutung wird im patriarchalen, heteronormativen Diskurs nicht nur die Körperlichkeit, sondern auch die Arbeitsteilung festgeschrieben. Dieses Gefühl ist für Frauen gedacht. Frau-Sein heißt Scham haben. „Was sollen die anderen nur denken“, ist der Satz, der nicht nur aus der Werbung lärmt und Mittel für weiße, fleckenfreie Wäsche verkauft, sondern seit Generationen von Elternhaus zu Elternhaus getragen wird, in liebevoller Sorge um die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Wenn die Hose zerrissen ist oder die Hefte Eselsohren haben, wenn die Achseln nicht rasiert sind und der Körper nicht ist wie er sein soll. Dann kommt dieser Satz, der immer darauf verweist, dass nicht nur ich Scham empfinden soll, sondern ich auch andere beschäme, sie in meine Destruktivität hineinziehe.

So wird unsere Scham nicht nur in Beautyserien verwert- und vermarktbar, sie wird auch sozial produktiv, indem sie die Normen und Herrschaftsverhältnisse aufrechterhält, verkörperlicht und vereinzelt in jeder von uns. Es zeigt sich wieder, wie machtvoll dies versteckte Ding ist. Die Scham trennt uns und stößt uns für einen Moment aus der Gemeinschaft. Wir stehen in der Ecke. Die Scham ist ein sozial privatisierter Ort: Wir stehen allein, und doch braucht es erst die Gruppe, um dieses Alleinsein zu produzieren.
Statt die ausgetretenen Pfade der Selbstverurteilung, Selbstoptimierung und Selbstzurichtung zu gehen, widmen sich die Autorinnen im Schwerpunkt dieser Ausgabe einer feministischen Lesart der Scham. Sie zeigen Frauen, die sich über Schamgrenzen hinwegsetzen, erörtern Wege, die aus der einsamen Ecke in solidarische Beziehungen führen, verstehen Scham im doppelten Sinne und wenden sie ins Konstruktive.

Von Elena Simon


Inhalt dieser Ausgabe:

Der weibliche Blick auf den eigenen und fremden Körper in der Kunst
Von Christiana Puschak

Scham ist auch Power, lasst sie uns nutzen!
Von Orane Courtalin

Einander feministisch beschämen
Von Anna Schiff

Keine falsche Scham
Von Mag.a Dr.in Felice Gallé

Die Scham ist vorbei! Oder?
Von Tina Berntsen

MEINE FEMINISTISCHE WAHRHEIT
Zeitgleich.
Von Elena Simon

KRIEG UND FRIEDEN
Geflüchtete auf Kos.
Von Lena Reiner

Empathie statt Zahlen. Virtual Reality-Dokumentation „The Choice“.
Von Anna Schiff

WHO CARES?! Kämpfe um Reproduktion und Gewerkschaftsarbeit
Kämpfe um Sorge sind der Einstieg in eine solidarische Gesellschaft
Autor_innenkollektiv Werkstatt Care Revolution

HERSTORY
Vor 30 Jahren: Rheinhausen kämpft gegen Stilllegung
Von Gabriele Bischoff

PROJEKTE
Paritätsgesetz in Deutschland?
Von Gabriele Bischoff

KULTUR
Lena Reiner – Die Menschenfotografin
Von Kathrin Schultz

Der Bildband „Real Beauty“
Von Isolde Aigner

GESEHEN
Das Mädchen aus dem Norden (Samblod)
Von Gudrun Lukasz-Aden / Christel Strobelw

DATEN UND TATEN
Gertrude Urzidil / Erna Lugebiel, geb. Voley