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Frühjahr 1/2024

Älter werden

Die Themen, die ums Altern kreisen, sind entweder von Panik vor einer vergreisenden Nation geprägt oder verklären das Altwerden: Da ist von den flotten Fünfzigern und junggebliebenen Sechzigern die Rede, von jungen Alten und Jungsenioren, da mutieren alte Menschen zu älteren Mitbürgern, weil älter anscheinend jünger ist als alt, und statt von Menschen, die gefüttert werden müssen und nicht mehr allein vom Klo runterkommen, spricht man lieber von der Fitness bis ins hohe Alter.“, schreibt Birgit-Sara Fabianek in der Zeitschrift „Frauen unterwegs“.

Wir sollen zwar bis 65 arbeiten, bekommen aber mit 45 schon keinen Job mehr. Die Zeiten, in denen die Ansammlung von Wissen über viele Jahre noch einen Wert an sich besaß, sind scheinbar längst vorbei. Wissen ist heute etwas, das „veraltet“ und seine Gültigkeit verlieren kann. Wichtiger sind heute die sogenannten Schlüsselqualifikationen, angeblich Privilegien der Jugend: Mobilität, Flexibilität, die Fähigkeit immer schneller Neues zu Lernen und, wichtiger noch, Überholtes zu ver-lernen und zu vergessen. Wie wertvoll sind da noch Erfahrungen?

Älter werden kann zum Alptraum werden in einer Zeit, in der Schimpfwörter mit „alt“ gesteigert werden („alte Hexe“, „alter Idiot“) und in der als großes Kompliment gilt, als jünger durchzugehen. Eine ganze Industrie profitiert vom Verkauf zahlloser „Heilmittel“ wie Kosmetik, Hormonpräparate und Regale voller Ratgeberliteratur. „Erfolgreich altern,“ so noch einmal Birgit-Sara Fabianek, „heißt bislang nichts anderes, als eigentlich nicht zu altern.“

Es stellt sich nicht die Frage, ob wir altern, sondern wie.

Auch wenn über das Thema Altern oft reißerisch und defizitorientiert berichtet wird: Mehr noch als in vergangenen Jahren bleiben viele Ältere lange aktiv: sie haben Sex (und sprechen drüber), sie reisen und studieren. Der Anteil der über 50jährigen, die sich nach eigenen Angaben bewusst unauffällig kleiden, ist in den letzten 10 Jahren von 63 auf 49 % gesunken. „Als ich 50 wurde,“ so Sonia Mikich in ihrer Anmoderation zum Thema Jugendwahn deutscher Unternehmen, „habe ich ein rauschendes Fest gefeiert, fand mich klüger, besser, wunderbar und überhaupt – ich schaute gerne nach vorne.“ Nach neuen Bildern und Geschichten über ältere Frauen und ihre „späte Lust am Leben“ hat Mechthilde Vahsen die Literatur durchforstet. Wer noch Lesestoff für kalte Winterabende benötigt, wird hier sicher fündig.

Da sind auch noch die älteren und alten Frauen, die mit großem Einsatz ihre eigenen Lebensentwürfe realisieren. „Wir kümmern uns heute darum, wer sich später um uns kümmert – jenseits der staatlichen Fürsorge“ heißt es in der Pressemitteilung von ALIA – Anders Leben im Alter e.V. Wir stellen Initiativen für gemeinschaftliches, selbstbestimmtes Wohnen im Alter vor.

Mut machen all die Alten, die ihr Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe einfordern. Manche weiß zu berichten, sie sei halsstarriger geworden in diesen Fragen und schere sich weniger ums Gefällig-Sein. Hier können Frauen aller Generationen ganz sicher von- und miteinander lernen. Anlässe gibt es dazu genug.

Zornig, pointiert und mit globaler Perspektive schreibt Hanne Schweitzer in ihrem Beitrag über Altersdiskrimierung: „Die Armut ist weiblich und die Armut ist alt.“ Frauen, so Hanne Schweitzer, werden gleich doppelt diskriminiert: Sie haben das falsche Geschlecht und fast ihr Leben lang das falsche Alter.

Auf den Blickwinkel kommt es an

In den Medien und an Stammtischen ist viel die Rede von der Überalterung der Gesellschaft. Renten werden gekürzt unter dem Verweis darauf, dass die Alten nicht die Zukunft der Jungen vervespern dürften. Auf dem Hintergrund der manchmal geradezu hysterischen Beschwörung der zu großen Anzahl alter Menschen kann eine Überlegung, alten Menschen eine Hüftoperation aus Kosten-/Nutzengründen zu verweigern, kaum verwundern. Wohlsituierte SeniorInnen erfahren noch am ehesten eine gewisse Nachsicht, stellen sie doch potente KonsumentInnen dar. Mit dieser doppelbödigen „Moral“ beschäftigt sich auch Uschi Siemens in ihrem Artikel über ihre Mutter, die, an Alzheimer erkrankt, zunehmend Unterstützung braucht.

Die Motive und Gründe, warum junge Frauen/Familien weniger bereit sind, Kinder aufzuziehen, inzwischen Allgemeingut bei Menschen, die ihren Verstand nicht mit dem Wahlzettel abgegeben haben: Kaum in einem anderen Bereich klaffen politische und regierungsamtliche Erklärungen und die Realität so krass auseinander wie in der Unterstützung von Kindern, Frauen und Familie. Angefangen von den Mängeln in Umfang und Qualität der Kinderbetreuung über frauen- und familienfeindliche Arbeitszeiten, die wieder zunehmenden Unterschiede im Entgelt von Frauen- und Männerarbeit bis hin zu Entrechtung und Rollback für Frauen durch Hartz IV.

Die Altersforscherin Dr. Ursula Lehr dreht das Problem vom Kopf auf die Füße und stellt fest: Nicht um eine Überalterung handelt es sich, sondern um eine Unterjüngung.

Melanie Stitz und Ingeborg Nödinger

Inhalt dieser Ausgabe

Die späte Lust am Leben

Ältere Frauen in der Literatur

Mechthilde Vahsen

Breite Vielfalt und gemeinsame Problemlagen

Die Lebenssituation von „Frauen 50+“ in Deutschland“

Mone Spindler

Wie Lesben im Alter leben wollen

Jutta Harbusch

Die Armut ist ALT und weiblich

Hanne Schweitzer

Alzheimer – abgeschoben?

Uschi Siemens

Infos zum Schwerpunkt

 

Andere Länder


Dichtung und Wahrheit am Ararat

Eindrücke von Besuchen in Tschetschenien

Barbara Gladysch

Geschlechterverhältnis

Frigga Haug

Internationale Frauenkonferenz „Geschlecht und Demokratie“ in Berlin vom 11. – 13. September 2004

Patricia Baum

„Gesundheit hat ein Geschlecht, sie ist männlich oder eben weiblich!“

Sonja Vieten

Feministische Widerstandstage in Berlin

Kultur


Mord in mageren Zeiten

Dorothy Sayers

Mithu M. Sanyal

Yayoi Kusama

Jessica Puhle


Herstory

80 Jahre und kein bisschen leise – Esther Bejarano

Birgit Gärtner

Daten und Taten

Irmgard Keun und Dorothy Lucille Tipton

Doris Heeger, Sabine Schwabe

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